Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
im Juni 1942?
In Ilses Notizbüchlein ist der Monat gut gefüllt. Sie fährt zweimal nach Zürich, geht dort ins Theater, trifft sich mit Fred. Am 9.
Juni erfährt Ilse durch Edith Landmann vom Selbstmord Paula Hammerschlags in Hohenems. Am 10.
Juni schreibt Ilse eine Postkarte an Maries letzte Deckadresse, in der Hoffnung, von dort ein Zeichen zu bekommen. Am 20.
Juni geht sie nochmals in Zürich zum Standesamt, um sich zu erkundigen, welche Dokumente sie für die Eheschließung aus Berlin benötigt. Sie kauft sich eine Bluse und Schuhe, erhält von Fred 100 Franken und ruft Margarete Susman an.
Am 27. ist Seminarausflug mit Professor Muschg, und am 30.
Juni hält Ilse im Germanistischen Seminar ihr Referat zum Vorexamen, das sie nun, im zweiten Anlauf, besteht. So endet der Monat Juni, ohne dass Mutter und Tochter, Tochter und Mutter voneinander wissen. Im Fälkli liest Renata aus einemBrief von Gertrud Kantorowicz aus dem Jahr 1940 vor: »Das Notwendige wird gerufen, und wer am Abgrund geht, hat den Blick auf die Gipfel wie nie zuvor. Nun, wir gehen schwindelfrei, aber den Blick auf die Gipfel haben Sie geschenkt […]«
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»Mutti zeitgemäß«
ERNA LÖWY AM 6.
JULI 1942
Am 13.
Januar 2011 erhalte ich eine sachliche Nachricht aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam: »Die von Ihnen angegebene Signatur entspricht der hier überlieferten Akte zu Marie Winter im Bestand der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg.«
Ich verabrede einen Termin im Lesesaal und fahre hin. Es ist ein regnerischer Tag. Eine weite Autofahrt durch Berlin zum Windmühlenberg ganz am Rand von Potsdam in einer bewaldeten Gegend voller Einsamkeit. Ein Ort eher geeignet für ein Munitionsdepot. Doch was ich bestellt habe, passt auch ganz gut in diesen schütteren Kiefernwald auf sandigem Boden – ein stimmiges Bild für meine letzte Begegnung mit Marie, denke ich.
Die Akte Rep.
36 A II Nr.
40063 enthält die Verwertung von Marie Sara Winter. Zweihundertundsechs Blätter, nahtlos nach Kriegsende in den Versuch einer Wiedergutmachung überführt: »Wir bitten um Mitteilung der letzten regulären legalen Wohnung der angeblich ›Deportierten‹«, vermerkt das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg am 12.
Juni 1948. Aus der Trostlosigkeit der brüchigen Papierbögen grinsen die Täter. Sie haken ab, erfüllen, paraphieren, verweisen, legen weg: ad acta!
Nachhall eines Lebens im nassen Wald vor Potsdam. Was mache ich hier, warum diesem Leben so schonungslos auf denGrund gehen, alles wissen wollen, wissen müssen, besessen suchen? Warum?
Maries letzter Federstrich, 19.
Juni 1942. Die beredte Briefschreiberin, mit eleganter und geschwungener Handschrift, gewohnt elegant und geschwungen, später klein und gedrängt – doch stets im Vorwärtsgang –, stockt. Immer hat sie zu erzählen, zu hoffen, zu beschimpfen und zu beschwichtigen gewusst – ihr Leben wird immer mehr zum geschriebenen Wort, immer mehr Brief, will raus aus der Enge, hätte so gern noch einmal Glück erzwungen. Auf Postkarten hat sie bis zuletzt gehofft, das Schreiben hält Marie am Leben – bis sie ihr den letzten Funken Dasein auch noch wegnehmen: Papier und Werkzeug. Erst jetzt ergibt sich Marie, wortlos gemacht.
Im Kerker dazu genötigt, zählt sie ihre Habseligkeiten auf: »1 Kostüm, 1 Rock, 2 Blusen, 1 Strickjacke, 4 Paar Unterwäsche, 2 Paar Strümpfe, 1 Morgenrock, 1 Schirm, 4 Paar Schuhe, 3 Handtaschen.« Ihr letzter Eintrag trägt nicht mehr die gewohnte Schrift. Die Feder kratzt auf dem faserigen, tintegierigen Bogen. Kleine Spritzer bekleckern das Blatt. Ihre Unterschrift »Marie Sara Winter« ist beinahe unleserlich, mehrmals angesetzt, als ob sie ihrer selbst nicht mehr mächtig wäre, bis zum letzten Zeichen.
Ihr Gepäck ist im Polizeigefängnis von Bregenz verblieben. Es wird im Auftrag der Gestapo nach Berlin geschickt und mit Anweisung vom 21.
August 1942 »zur Verwertung« freigegeben. Für den Transport stellt die Berliner Rollgesellschaft der Geheimen Staatspolizei am 2.
Juli die Rechnung. Da lebt Marie Winter schon nicht mehr.
Am 24.
Juni wird Marie vom Polizeigefängnis am Alex zum Sammelplatz in der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße gebracht. Die Gestapo hat einen sogenannten Straftransport »nach dem Osten« durchgesetzt, um ihre jüdischen Häftlinge loszuwerden und um die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« zu schwächen. Für
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