Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
kann. Von Gertrud und Clara Kantorowicz hingegen gibt es Lebenszeichen aus Theresienstadt. Die Baslerinnen schicken mit Artur Sommers Hilfe Pakete dorthin und kümmern sich so gut es geht um deren Überleben. Dennoch ist im Fälkli Trauer, Renatas Bruder Rudolf ist in Berlin wegen angeblichen Landesverrats zum Tod verurteilt worden. Am 22.
Dezember 1942 wird er im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet. Das große Morden ist unübersehbar.
Am 16.
Februar indes bittet Professor Walter Muschg Ilse nach dem Kolleg zu sich. Er hat ihr mitzuteilen, dass ihr Gesuch um Zulassung zum Doktorexamen trotz der erfolgreichen Vorprüfung vom Dekan der Fakultät zurückgestellt worden ist, da noch Vorbehalte auszuräumen seien. Was Muschg sich nicht traut zu sagen, ist, dass der Dekan sich an die Politische Polizei gewandt hat, um »den Fall nach allen Seiten abzuklären, und vor allem auch, um die Gerüchte zu prüfen und wenn möglich zu zerstreuen«. Was Muschg weiterhin nicht wagt, ihr gegenüber anzusprechen, sind seine Bedenken, die er »schon immer gegen die moralische Qualifikation der Kandidatin gehegt habe«.
Das und mehr noch teilt er dem Dekan am 22.
Februar umso deutlicher schriftlich mit: »Seit jenem zweiten Vorexamen sind mir weitere Informationen über den Lebenswandel von Frl. Winter zugekommen, die mich nun doch veranlassen, auf meine Stellungnahme zurückzukommen und mich entschieden gegen die Zulassung von Frl. Winter zum Doktorexamen auszusprechen.« Dass sich Ilse möglicherweise bei der Ausarbeitung der Dissertation hat helfen lassen, erwähnt er in diesem Brief mit keinem Wort. Sein Angriff auf die Moral von Fräulein Winter hat ein Ziel, das er nicht beim Namen nennen kann: Edgar Salin.
Die Anfrage des Dekans bei der Politischen Polizei ist ein Rohrkrepierer, es liegen »keine ernstlichen Bedenken« vor. Ilse hört von der Anfrage und erkundigt sich bei Fritz Jenny, was gegen sie vorliegen könnte: nichts. Sie fackelt nicht lange und weist den Dekan schriftlich darauf hin, er habe sich ihren Leumund auf dem üblichen Amtsweg zu beschaffen und nicht durch Erkundigungen, die darauf aus seien, einen Verdacht zu nähren, der unbegründet sei. Die Angelegenheit droht, peinlich zu werden. Zeit für Edgar Salin, sich zu Wort zu melden. In einem ausführlichen Schreiben an den Dekan der Fakultät formuliert er:
»Ich beneide alle diejenigen um ihre Selbstsicherheit, die ein Urteil über moralische Qualifikationen abgeben – ich habe sie nicht und gebe sie nicht. Aber ganz abgesehen davon, dass die Frage vollkommen offen ist, ob dieses Urteil von irgendeiner Relevanz für die Zulassung zur Prüfung ist (eine Frage, die nur nach genauer Prüfung der Universitätsgesetze entschieden werden kann!), ist die Angabe dieses Grundes, diejederzeit eine Ehrbeleidigungsklage zur Folge haben kann, nur dann zweckmäßig, wenn man über sehr sichere Zeugen verfügt.
Herr Oertl, den Sie in diesem Zusammenhang nannten, ist nach dem Urteil seiner Lehrer und der Polizei von kaum zu überbietender Fragwürdigkeit.«
Das wirkt, der Schlagabtausch pausiert. Am 11.
Mai schickt Walter Muschg eine kurze Notiz an einen Kollegen der Fakultät:
Meine Einstellung ist unverändert. Ich sehe sie heute Abend und werde ihr sagen, dass sich der Widerstand gar nicht gegen ihre Person richte, sondern gegen das Amtieren von Prof. Salin als ihr Hauptexaminator. […] Mir scheint, dass wir fest bleiben müssen.
Welch leidige Sache!
Herzlich Dein
W. Muschg
Am 12.
Mai, Salin ist von Ilses Aussprache bei Muschg unterrichtet, beschwert er sich deutlich bei seinem Dekan:
Vir spectabilis,
[…] ich bleibe empört über ein unkollegiales Vorgehen allerersten Ranges und über die frisch-fröhliche Auswertung eines Geklatsches, das seiner Urheberin mehr Ehre macht als den Gläubigen!
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Edgar Salin
Die Gerüchteküche kocht. Salin will sich die Erinnerung an zärtlichere Zeiten mit Ilse vom Leib schreiben und fordert den Dekan am 21.
Mai auf, bei Herrn Muschg den Verzicht zu erwirken, ihn nicht länger in der bisherigen »skandalösen Weise« irgendwie in diese Debatte zu ziehen. Der Dekan möge einen Weg finden, »um die Angelegenheit in einer Form zu bereinigen, wie sie Männern, Gelehrten und Kollegen geziemt«. Ilse ist im Machtkampf der Gelehrten beiseitegefegt. Am 1.
Juni wird der Disput, wie es sich für Männer »geziemt«, beigelegt. »Ich betrachte
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