Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
auch meinerseits das Examen als erledigt. Was mir bleibt, ist das Bedauern, dass diese Störung der kollegialen Eintracht nicht vermieden werden konnte«, schreibt Salin nach der Aussprache über »Frl. Winter« an den Dekan. Auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, die junge Frau ohne Abitur zum Studium zuzulassen, notiert Edgar Salin: »Die Verantwortung dafür, dass Frl. Winter unterrichtet wurde, möchte ich gerne […] auf mich übernehmen.« Erledigt. Ilse wird nicht zum Examen vorgeladen, doch hat ihr der weite Weg zur Doktorwürde wohl das Leben gerettet. Den Vorwurf einiger Kollegen, menschlich gehandelt zu haben, weist Edgar Salin in der Sitzung der gelehrten Männer empört zurück.
Am 19.
April liegt ein Briefkuvert mit dem Stempel »Inconnu« in Ilses Briefkasten; es ist ihr letzter Brief an Williwusch vom 24.
März. Sie vermutet ihn im Pyrenäenlager von Gurs undschließt mit dem Satz: »et pense à moi, que tu est le seul de nôtre famillie pour la petite Illepuppe«.
»Retour à l’envoyeur« – Willi Eisenberg wird im Februar 1943 von Charlieu aus nach Lalouvesc im Département Ardèche befohlen. Dort wird er im Hotel Beau Site , 13 rue des Alpes unter Hausarrest gestellt. Seine Freunde raten ihm, sich über die grüne Grenze nach Genf durchzuschlagen, was durchaus gelingen konnte. Doch Willi bleibt. Seine letzte Postkarte, datierend vom 23.
Februar 1943, ist erhalten:
»En cas d’accident quelconque, veuillez en prevenir:
Mme A Roche 11 rue Jean Morel Charlieu – Loire
Mademoiselle Ilse Winter Augustinergasse 15 Bale Suisse
Madame Berenice Mills 3100 Sheridan Road Chicago Illinois USA
Willi Eisenberg«
Kurz darauf wird er verhaftet und in das Durchgangslager Drancy bei Paris gebracht. Am 6.
März um 8:55
Uhr verlässt Willi Eisenberg Frankreich in einem Transport von 1000 Menschen mit dem Ziel Majdanek. Nach zehn Jahren Emigration und Entbehrung war er zu erschöpft, um noch Kraft für seine Rettung zu finden.
Stille.
Nun ist Ilse allein – keine Illepuppe mehr. Ihre Briefkästen sind geleert und verstummen. Sie spürt, dass sie sich ein neues Zuhause schaffen muss. Weg von Basel, wo sie so viel Leid erreicht hat, wo ihr nun so viel Häme entgegentritt. »Sie sah selbst diesen Lauf der Dinge voraus. Dass Basel kein Aufenthaltsort mehr für sie wäre, war ihr völlig klar«, schreibt Marianne von Heereman im Juli an Edgar Salin, dem die Vorstellung, Ilse noch einmal zu begegnen, äußerst unangenehm ist. Marianne von Heereman kann ihn beruhigen: »In Burg sind Sie aber, glaube ich, sicher; hier hatte sie gar keine ernstliche Absicht herauszufahren. Hoffentlich haben Sie einen recht schönen Tag mit Frau Landmann.« Von den Freunden aus über sieben Basler Jahren bleiben nur Renata und Marianne unverbrüchlich. Die anderen bedauern oder wenden sich ab. Maria will vorwärts kommen, da stört eine wie Ilse.
Ende Mai kommt Artur Sommer zu Besuch. Er trifft sich mit Ilse und berichtet die Details von jenseits der Grenze. Noch einmal geht Marie dahin – diesmal endgültig. Dieser 30.
Mai 1943 kann der Tag gewesen sein, an dem Ilse alle Erinnerung an Marie und Willi, die Briefe und Postkarten, die Fotos und kleinen Erinnerungsstücke, die Telegramme und »Ablehnungen – mit vorzüglicher Hochachtung« in die zwei Schuhkartons packt und im Dunkel einer Truhe verschwinden lässt. Sie muss die Vergangenheit zum Schweigen bringen. Ilse ist jetzt einunddreißig Jahre und will endlich ihren Anfang finden.
Im Sommer 1943 fährt sie immer öfter übers Wochenende zu Fred nach Zürich. Sie drängt ihn zur Ehe. In Basel ist ihr Status prekär, sie mag sich nicht mehr gern zeigen, und die Bewilligungen aus dem Büro Jenny werden auch nur noch mit spitzen Fingern abgegeben. Die Urkunden aus Berlin treffen ein. Nach etlichen Vorauszahlungen und zeitraubenden Nachfragen übersendet das Standesamt Berlin-Wilmersdorf die Heiratsurkunde von Marie und Felix Winter, nicht ohne vorher darin – gegenGebühr – den Vornamen »Israel« für den 1925 verstorbenen Vater ergänzt zu haben.
Ilse und Fred auf dem Zürichsee, 1943
Einen Monat später, am Tag von Mussolinis Sturz, wird die Eheverkündung von Ilse Victoria Winter aus Berlin, staatenlos, und Alfred Heim aus Zürich, Bürger von Dättwil, Kanton Aargau, im kleinen Schaukasten unter den Eingangsarkaden am Stadthaus von Zürich ausgehängt. Am 19.
August ist die Trauung. Am 21.
August stirbt Hertha Heim, Freds
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