Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Lieblingsschwester. Am 1.
September fährt Frau Ilse Heim nach Lausanne und von dort weiter in die Walliser Hochalpen. Sie bleibt vierzehn Tage in Arolla, Evolène und Grimentz, unternimmt mit ihren Nagelschuhen mehrtägige Querungen, besteigt den Pic d’Artsinol und liegt an ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag mit einer schweren Erkältung im Bett. Am Abend ruft Fred an, er ist bis Ende September im Militärdienst.
Anfang Oktober kommen die ersten Umzugskisten in Zürich an. Fast auf den Tag genau acht Jahre hat Ilse in Basel gelebt. Jetztbricht sie mit der Stadt. Nie mehr will sie dort spazieren gehen, bei Spillmann am Rhein sitzen und Kaffee trinken, den Münsterplatz queren, sich an die Augustinergasse mit »ihrem« Haus von 1486 erinnern – den gemütlichen Salon, die Wand der vielen Postkarten –, die gute Nachbarin an der Hardstrasse besuchen. Nie mehr will sie mit der Hand über den Briefkasten streichen, der so viel Leben zu ertragen hatte, nicht noch einmal über den Petersplatz schlendern, mit schrägem Blick auf das Kollegiengebäude, in dem E.
S. seine zweiten Semester drillt, oder zum Spiegelhof gehen, wo Fritz Jenny im vierzigsten und auch noch im fünfzigsten Dienstjahr weiterhin über »seine« Fremden wacht, bald nur noch Italiener auf Arbeitssuche.
Drei Jahre nach dem Ende des »infernalen Spuks« wandern Renata und Marianne im Juni 1948 an Bord der George Washington in die USA aus – da hat Ilse schon längst neue Freundinnen in Zürich gefunden. Frau Heim macht voran, und so verschwindetauch Basel nach und nach in ihrem »Schuhkarton der vergessenen Leben«.
Doch so einfach lässt es sich nicht neu anfangen. Zäh und unbarmherzig sorgt Marie für Erinnerung. Im Herbst 1946 erhält Ilse Heim eine Mitteilung der Spedition Danzas aus Freiburg im Breisgau mit der Anfrage, wohin das Umzugsgut der Marie Winter, Landhausstraße 8 geliefert werden soll. Marie hat im Herbst 1941 Vorsorge getroffen und »alle guten Sachen« über ihren Strohmann, Verwalter Lieutenant, für die »Zeit danach« bewahrt. Ganz zuletzt hat sie vorausgeschickt, wovon sie sich nicht trennen konnte und was sie bis zuletzt hoffte, einmal wiederzusehen: das Porzellan, das Silber, die Perserteppiche, Ilses Aussteuer, Fotoalben, Briefe, Dokumente – die Versatzstücke ihres preußischen Lebens. Mit alledem bin ich aufgewachsen, lange bevor sich mir die Schuhkartons öffneten.
1948, Ilse ist jetzt sechsunddreißig Jahre, wünscht sie sich ein Kind. Sie wünscht es sich nur von einem, von ihrer ersten und größten Liebe, von Felix Gasbarra, dem Helden der frühen Jahre, dem wilden Agitator, dem Fantasten der Weltrevolution. Diese Bilder will Ilse noch einmal sehen, will noch einmal die behütete »Jo-Jo« sein. Sie kann ihn finden, sie weiß, dass Gasbarra sich 1945 mit den Partisanen und dann mit den Truppen der Alliierten von Rom bis nach Bozen durchgeschlagen hat. Dort kommt er zur rechten Zeit an – wie immer! Er kann sich nützlich machen, die Briten ernennen ihn zum Generalzensor der Provinz Bozen. Nun ist er fünfzig Jahre und mit allen Wassern gewaschen. Er beschließt zu bleiben. Gasbarra kauft sich eine mächtige Burg hoch über Bozen und richtet sein Leben noch einmal ein. Dort, auf Burg Kampenn, sieht Ilse 1949 ihren »Molz« wieder.
Noch einmal »Molz« und »Jo-Jo«, 1949
Fest entschlossen besucht sie ihn Monat für Monat, um Mutter zu werden. Daher komme ich nun, aus ihrem Willen, die verlorene Welt noch einmal bedingungslos zu leben – fernab unddoch ganz nah, zieht in einer klaren Winternacht ein »Mond der Beladenen« seine Bahn zur Neige.
Bleibt noch ein Rätsel; »Jacques«, der schöne Jüngling von Erich Heckel. Wie ist diese Radierung zu Ilse gekommen, wo sie doch sonst keine Originale an den Wänden hatte?
2011 lerne ich in Zürich Renatas Nichte Elisabeth kennen, die Tochter des ermordeten Rudolf von Scheliha. Am Ende eines langen Abends drückt sie mir einen dicken Umschlag voller loser Blätter in die Hand. Lebenserinnerungen der Fälkli-Frauen und deren Freundinnen, auch Margarete Roesners, die 1942 so unerschrocken mit auf die Reise zur Grenze gegangen ist. Noch in derselben Nacht lese ich und erfahre viel.
1944 verlässt Margarete Roesner Ostpreußen und flieht bis an den sicheren Bodensee, auch um nah bei den »Baslerinnen« zu sein. Sie findet Unterkunft und kann ihre Eltern mit viel Mut nachholen. Die musisch interessierte Margarete besucht 1945 in Überlingen die Ausstellung
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