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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Mahagonifurnier – kleine Intarsien aus Perlmutt setzen Akzente. Die Anrichte aus Kirschbaumholz glänzt mit bombiertem Glas, die Kredenz mit einem Aufsatz und viel geschliffenem Kristall. Marie hat ihrem Felix ein helles, gediegenes und geschmackvolles Haus eingerichtet. Ilse ist jetzt zehn Jahre alt, ein verwöhntes, altkluges und auch launisches Einzelkind.
    Deutsch-Wilmersdorf wächst nach der Eingemeindung von 1920 rasch zum begehrten Stadtteil der wohlhabenden Berliner Juden heran. Berlin-Wilmersdorf und das Bayerische Viertel nennen die Juden nun zärtlich »unsere Preußische Schweiz« – hier lässt es sich gut leben. Auch das Familienglück der Winters ist weithin sichtbar, wofür sie von allen Verwandten und Maries vielen Freundinnen leise bewundert und laut beneidet werden.
    Marie führt ein lebhaftes Haus. Sie lädt gern zu Konzerten ein, bei denen sie Schubert-Lieder mit Klavierbegleitung singt. Sie ist eine gute Köchin, und sie liebt es, ihre Familie zu verwöhnen. Am jüdischen Pessachfest versammeln sich die Eisenberg-Familien im weiten Speisezimmer in der Landhausstraße. Dann reisen auch Ilses Cousins Fritz und Peter Treitel an, die in Messingwerk bei Eberswalde zu Hause sind, wo ihr Vater, Onkel Hans, Chefingenieur ist. Großvater Chaskel liest die Geschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten, und weit nach Mitternacht gehen Willi und »Putz«, Hans und Felix, die Kinder Peter, Fritz und Ilse, »Mieze« und Chaskels zweite Frau Margarethe mit dem frommen Wunsch »Nächstes Jahr in Jerusalem« auseinander, der den deutschen Juden nicht mehr als Aufforderung in den Ohren klingt, denn ihr Jerusalem liegt längst an der Spree.
    Die Villa mit ihren dreizehn Zimmern ist das Reich der energischen Marie: die Köchin, das Hausmädchen, die Wäscherinnen, die wöchentliche Näherin, der Hausmeister, der auchChauffeur ist, seine schwatzhafte Frau, die vormittags im Milchgeschäft der Meineckers an der Güntzelstraße aushilft, die ganze Hausbrigade wird von ihr kommandiert. Jeden Morgen um neun fährt der Hansa vor und bringt Felix Winter in die Stadt oder zu seiner Möbelfabrik an der Köpenicker Straße. Mit seiner Sekretärin, Fräulein Brunner, hat Felix Winter schon seit Jahren ein Verhältnis, das jeweils zu Ostern seinen Höhepunkt erreicht, wenn Marie in Loschwitz bei Dresden im Sanatorium Weißer Hirsch zur Kur weilt und Illepuppe dabei hat. Die Verhältnisse in der Landhausstraße 8 sind überschaubar, verlässlich und wohl geordnet.
    Familie Winter in San Remo, 1924
    Ilse wächst behütet und vom Vater sehr verwöhnt auf. Er nennt sie »mein goldener Hund« und liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Jedes Jahr darf Ilse an Fasching zu einem großen Kostümfest in die Landhausstraße einladen. Die vielen jüdischen Kinder, alle Anwohner der kurzen Alleestraße, besuchen sich oft gegenseitig und gehen gemeinsam am Nikolsburger Platz zur Schule. Jeden Sommer lassen sich die Winters für einen Monat ins Ostseebad Heringsdorf chauffieren. Von diesen jährlichen Strandferien habe ich ein dickes Fotoalbum in einem der Schuhkartons gefunden – Bilder eines weitverzweigten jüdischen Clans, selbstbewusst und voller Lebensfreude.
    1924 baut Felix Winter auf der Rückseite des Grundstücks eine Doppelremise für seinen Hansa und lässt einen großen Schuppen, den er als Möbellager nutzt, errichten. Seine Geschäfte gehen schleppend, seine Gesundheit leidet.
    Am 15.

April 1925 kehrt Marie von einer Reise zu ihrer Schwester Annie Kanitz aus Wien zurück. Felix und Ilse holen die Mutter am Anhalter Bahnhof ab. Abends sitzt die Familie im Wohnzimmer und hört sich die Oper Orpheus und Eurydike von Richard Strauss im Radio an. In derselben Nacht stirbt Felix Winter mit nur siebenundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt und hinterlässt den Zusammenbruch seiner Firma. Maries Leben wird sich von nun an völlig verändern. Noch sechzehn Jahre später bringt sie sich in einem Brief an Ilse diesen Tag in Erinnerung:

    Berlin, den 30.

November 1941

    Damals bin ich aus Wien gekommen, einen Tag vor seinem Sterben. 16 Jahre treibe ich mich nun schon so allein hier herum, und was habe ich denn nun noch Großes hier zu erwarten, lohnt es sich? Man tröstet mich immer, dass ich Dich doch habe. Du sollst nur gesund und glücklich sein, aber bald bin ich alt, und es schwindet auch damit immer mehr das Empfinden, was mir heute noch lebenswert erscheint.
    Na, Schluss mit meiner Dämmerstimmung; manchmal ist einem

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