Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
genehmigt das Bezirksamt Wilmersdorf den Abriss des Wohnhauses Landhausstraße 8 – ob Ilse das noch wissen wollte?
Dieses Haus ist die Mitte von Marie Winters Leben, hier besorgt und sorgt sie zwanzig Jahre lang. Von hier aus bangt sie um sich, um ihre Tochter, um ihre Geschwister. Nun will ich sehen, wo Ilse aufwächst, wo Marie untergeht. Ich will mir ein Bild machen können, wo die einhundertzweiundsiebzig Briefe und Postkarten entstehen, die von der Landhausstraße Basel erreichen.
Wie die Küche aussieht, wo Marie in den guten Jahren mit der Mamsel so fein kocht und in den mageren Jahren die Judenration strecken muss. Wo hält Marie in ihren letzten Sommern mit ihren Freundinnen Marta Baum, Lotte Sachs, Grete Ucko oder Else Goldschmidt ihre – wie sie schreibt – gemütlichen Kränzchen ab? Ich will wissen, wie die Kellerwohnung ist, in die Marie ziehen muss, weil es oben voll wird.
Nie habe ich im Leisesten geahnt, welches Leben in diesem Haus gewesen ist, wie viel Verzweiflung auch in dieser schmucken Backsteinvilla war. Ganz anders habe ich gedacht: Schade, dass sie es verkauft hat. Ein schickes Haus im guten Westen hätte ich gern geerbt. Doch jetzt ist gut, dass ich das Haus nie betreten habe. Nur so schaffe ich Bilder, um vom Leben darin zu erzählen: vom Aufbruch meiner Mutter und vom Verharren Mariesund von den vielen Bewohnern mit Namen, aber ohne Gestalt. Ich habe Glück, dass mich dieses Haus verschont hat, es hätte auch mich mitgerissen.
Im Juni 2012 lasse ich mir im Landesarchiv Berlin die umfangreiche, mit vielen Fäden um immer weitere Dokumente ergänzte Bauakte »Landhausstraße 8
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1895–1974« vorlegen. Ganz vorn die ursprünglichen Baupläne mit schwarzer Tinte auf Planpergament gezeichnet, ganz akkurat: Gemarkung Deutsch-Wilmersdorf. Bauherr ist ein Regierungsrat Schräder. Er bestellt 1895 bei Architekt Gustav Lilienthal, Berlin-Lichterfelde, ein großzügiges Landhaus im grünen Westen der schnell wachsenden Stadt. Neogotisch und modisch wilhelminisch, ganz die Zeit. Natürlich Spitzgiebel mit verspielten Firstreitern und zwei Ecktürmchen mit Wetterfahnen auf der Haube. Zur Straße sticht ein kecker Erker vor, die Fensteröffnungen sind himmelwärts mit Backsteinen geziert. In der ersten Etage eine kleine Folge Rundbogenfenster, hinter denen sich neugierige Blicke kleiner Mädchen gut verbergen können.
Landhausstraße 8, Entwurf von 1895
Auf dem seitlich angebauten Söller des Hauseingangs präsentiert sich eine zum Garten gewandte Terrasse, deren Umfassung von Mäandern aus rotem Sandstein geformt ist. Die Toreinfahrt zwischen Säulen und Schmiedeeisen. Ein Pilaster aus Backstein ist bis heute erhalten. Zur Straße hin rückt ein breiter Vorgarten das Anwesen ab, der aber auf Geheiß des Baustadtrats bei Straßenerweiterung zu verringern sei. Auf der Rückseite der lang gestreckte, mit Sandgelb und Grün durchsetzte Garten mit Bestand an Kiefern und Birken, in den der ausladende Wintergarten seine tiefe Terrasse mit den breiten Stufen wie eine Landungsbrücke vor sich her schiebt.
Grundstücksgröße laut Plan: 1
700 Quadratmeter.
Der Innenausbau ist gediegen. Hohe Räume und Eichenparkett. Im Parterre: Speisezimmer, Wohnzimmer, Herrenzimmer, Fremdenzimmer, Kinderzimmer und Veranda. Die repräsentativen Räume sind mit Holz verkleidet. Die Küche misst 18 Quadratmeter, nebenan ein Spülraum und zwei Speisekammern. Aus der Küche führt ein Abgang in das Kellergeschoss zur Wohnung der Hausmeisterleute: eine Schlafkammer, eine Wohnstube und die Toilette mit Waschbecken. Mit separater Zeichnung ist der Kesselraum der Zentralheizung beigelegt. Aus der Eingangshalle steigt eine breite, geschwungene Holztreppe in die erste Etage mit den drei Schlafzimmern, der Mädchenkammer und dem geräumigen Bad. Zwei Ankleideräume und auch eingebaute Schränke finde ich in den Grundrissen. Unter dem Spitzgiebel: drei kleine Kammern, der Trockenraum für die Wäsche, viel eingebauter Raum für Koffer, Kisten und allerhand Erinnerungen. Regierungsrat Schräder hat sich ein schönes Haus geschaffen!
Dieses Anwesen kann Felix Winter in den Inflationsjahren 1920/21 günstig erwerben. Seine Geschäfte kommen nach dem Krieg gut wieder in Gang, und zudem hilft der wohlhabende Schwiegervater Chaskel seiner »Mieze« bei der Finanzierungdes Lebenstraums. Natürlich wird mit Möbeln aus eigener Fabrikation eingerichtet. Funktionale, klare Formen, die Kommoden und Schränke mit
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