Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
umgeben: Ihr Kleid ist mit einem Blättermuster bedruckt, die Tischdecke auch, und die Bäume sind in sattem Grün. Ihr Arm liegt auf der Lehne, der Blick ist gütig, der Kopf leicht geneigt. Sie schaut in die Ferne, so weit, dass ich den Eindruck nicht los werde, sie würde durchIlse und nun durch mich hindurchschauen – etwas sehen, das wir nie ergründen werden. Auf dem geblümten Tischtuch steht ein Tellerchen mit einem Apfel. Der Fotograf könnte es arrangiert haben an so einem Nachmittag wie heute, sonnig und schon sommerlich, in einem Mai oder Juni – damals.
Auf der Rückseite schreibt Marie: »Seit ich unten wohne, mein am meisten benutzter Gartenplatz, da am bequemsten.« Hier also verbringt sie viele Nachmittage mit ihren Freundinnen, denn in den Kaffeehäusern und im Preußenpark mit seinen gelben Parkbänken ist kein Platz mehr für das jüdische Zusammensein.
So erinnere ich mich viele Jahre auf diesem der sechs Bilder an sie. Die Serie ist sicherlich an einem Tag entstanden, denn Großmutter Marie ist makellos frisiert und hat sich dreimal für den Fotografen frisch gemacht und umgezogen – immer im Blumenmuster. In starren Posen inszeniert sie sich in ihrem Haus in der Landhausstraße. Sie zeigt ihr elegantes Mobiliar. Marie setzt sich an Tischen und auf Fauteuils in Szene, sie will sich darin bewahren, vielleicht ahnt sie schon, was ihr bevorsteht.
So vergeht der ganze lange Nachmittag, an dem ich zum ersten Mal in das Leben von Ilse eindringe – in den Hof ihrer Geheimnisse. Am nächsten Tag ist der Schatz verschwunden. Von da an schweigt Ilse beharrlich, und mein Fragen wird erst nutz-, dann sinnlos. Irgendwann gebe ich auf, erfahren zu wollen, und ziehe mit fünfzehn bei Ilse aus, um in einem Internat zu leben. Die Schuhkartons tauchen bei Ilses Tod, fünfunddreißig Jahre später, aus tiefem Wasser auf, wie alte, weise Kraken kommen sie ans Licht – nicht mehr berührt seit jenem lichtumfluteten Nachmittag. Ilse hat alle Erinnerung für diese Zeit ihres Lebens im Dunkel der Zürcher Schuhkartons belassen.
DAS MÜTTERHAUS – BERLIN, LANDHAUSSTRASSE 8
Ich habe das Berliner Familienhaus von Ilse, Marie und Felix Winter nie gesehen, nicht einmal die Adresse, über den U-Bahnhof Güntzelstraße leicht zu erreichen, hat mich interessiert. Landhausstraße 8 gibt für den zwanzigjährigen Sohn auf seiner ersten Berlin-Reise keine Landmarke am Start ins eigene Leben ab. Berlin 1970 ist zu aufregend, um Gedanken an Vergangenes zu haben. Ich verlasse Kreuzberg nur, um am Bahnhof Zoo den Zug nach Zürich zu besteigen.
1972 komme ich wieder nach Berlin, diesmal für ein halbes Jahr. Ich wohne in der Naunynstraße, im harten Kreuzberg, zweiter Hinterhof, bei der Malerin Natascha Ungeheuer und ihrem Mann, dem Lyriker Johannes Schenk. Ich jobbe an der Schaubühne, damals noch Hallesches Ufer, als Kulissenschieber und lerne alle kennen: Otto, Bruno, Peter, Jutta, Barbara – damals Kumpel, heute Legenden. Die Zeit ist voll. Ich erlebe Rudi Dutschke, hänge in Kneipen und Nachtvorstellungen des Kinos Arsenal und werfe mich nie vor vier Uhr morgens in das immer feuchte Bett im dritten Hinterhof. Es ist eine große Zeit mit viel Rotwein und Revolte – und Mädchen auch. Ich lebe im Jetzt, tobe mich aus und habe keinen Augenblick lang Lust, nach Wilmersdorf zu fahren, um Nachschau zu halten – Nachschau worauf?
Nie hat mich Ilse damals, das Haus steht noch, darauf neugierig gemacht. Sie hat die Haustür, die sie zur Seele ihrer Mutter führen musste, die Toreinfahrt, durch die sie beinahe zehn Jahre lang jeden Morgen zur Schule gegangen ist, aus ihrer Bilderwelt vertrieben. Die Gefahr, eine Erinnerung an den Verlust dieser Landschaft zu schaffen, war bedrängender für sie, als dass dies die farbenfrohen Jahre an diesem Ort je hätten aufwiegenkönnen. Und würde sie mich dahin schicken, so kämen Fragen nach dem Warum und dem Wieso. Dem wollte sie partout entgehen, hatte sie doch vor ein paar Jahren erst mit Mühe die Schuhkartons aus ihrem Kopf vertrieben.
Für mich bleibt die Landhausstraße 8 bis zu Ilses Tod ein Ort ohne Ansichten, eine Adresse im Brachland, ein Horizont ohne Landschaft, ein Nichts, das sie 1954 »um jeden Preis« verkauft – in der festen Absicht, alle Erinnerung zu tilgen. Das ist ihr ganz gut gelungen. Es ist aber auch der Ort ihrer Auflehnung, die Absenderadresse unerbittlicher Briefe, der Schauplatz letzter Regungen. Am 9.
Juli 1974, so sehe ich in der Abräumakte,
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