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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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»über jeden Zweifel erhaben«. Wenn sie ihr Haar lang trägt oder es zu einem blonden Kranz arrangiert, ist sie »unwiderstehlich«. Damit kokettiert sie gern, denn welches jüdische Mädchen kann sich schon so »unjüdisch« herrichten? Schon immer hat sie die Extreme geliebt! Ihre beste Filmrolle als neidische Marga von Rasso in Mädchen in Uniform bekommt sie, weil sie so redlich blauäugig, so gut proportioniert und sexy ist. Eben genau so, wie viele deutsche Mädchen damals gern gewesen wären – Ideale des »Führers«. Ilse ist der Gegenentwurf einerjüdischen Schauspielerin, und das trotz ihrer Chuzpe. Das Filmdrama um die unterdrückte Frauenliebe im preußischen Mädcheninternat ist ein internationaler Sensationserfolg des deutschen Kinos im Jahr 1931. Leontine Sagan schreibt damit Filmgeschichte – und Ilse ist dabei!
    In ihrer grenzenlosen Naivität und vielleicht auch in Erinnerung an ihre makellose Marga von Rasso ist sich Ilse der Gefahr, in die sie sich als Kurier mit einem Koffer voller Flugblätter begibt, nicht bewusst. Sie soll diese als »stille Post« auf ihrem Zwischenhalt in Aachen in tote Briefkästen werfen. Selbst als im Grenzbahnhof Aachen die Gestapo alle Zugabteile durchsucht und Gepäck und Taschen öffnen lässt, bleibt sie völlig gelassen. Ihre knappe Geste, mit der sie ihren Pass reicht, inszeniert sie mit einem kurzen, schnippischen Augenaufschlag und einem gedachten: Bitte, wenn es denn sein muss … Die Männer gehen weiter.
    Ilse ist Mimikry. Sie kann Leben und Bühne nicht auseinanderhalten, Gefahr nicht ahnen und Bedrohung nicht erkennen – alles ist auf Effekt hin gelebt. Ilse wähnt sich stets in einem Film, der ihr Leben zu sein hat, und sie versteht es, sich so in Szene zu setzen, dass ihr die Hauptrolle jeden Tag neu auf den Leib geschrieben werden kann – Autoren und Publikum dafür findet sie immer.
    Trotz dieser Lust hatte sie eine erste »Mission« Münzenbergs im Winter 1934 abgelehnt: Sie sollte für ihn als »Beobachterin« zum Prozess um den Reichstagsbrand nach Leipzig reisen und im Gerichtssaal heimlich fotografieren. Entweder war sie an diesem Tag bei Sinnen oder vernünftige Genossen hatten ein Einsehen und rieten ab. Doch Münzenberg ließ nicht locker, einen besseren Boten fand er in ganz Paris nicht. So reist Ilse im Juli 1934 über Aachen nach Berlin. Sie bleibt nur ein paar Tage und hat nicht die Zeit – und wohl auch nicht den Mut –, ihre Mutter in der Landhausstraße zu besuchen.
    Ihre eigentliche Absicht: Sie will Felix Gasbarra noch einmal sehen, denn auch der ist auf dem Sprung in die Emigration. So taucht »Jo-Jo« mit ihrem »Molz« in einer kleinen Pension in Charlottenburg unter, wie sie es mit Mehring von den kleinen Pariser Hotels her gewohnt ist. Doch in Berlin herrscht ein anderer Ton. Es sind die Tage des Röhm-Putschs. Vor den Fenstern ziehen schwarze Verbände vorbei, in den Hauseingängen lauern die Spitzel der Gestapo. »Molz« und »Jo-Jo« sind in Gefahr, doch das Liebesnest lassen sie sich deswegen nicht nehmen. Beide ahnen, dass es ein Abschied für lange, lange Zeit, vielleicht für immer wird.
    Nach etwa einer Woche kehrt Ilse nach Paris zurück. Es ist nicht mehr ihr Berlin, alle sind weg, die Theaterspielpläne nicht mehr zu erkennen, und in den Kaffeehäusern der Literaten flegeln sich jetzt braune Uniformen hinter dem Völkischen Beobachter .
    In ihrem zweiten Jahr hausen Ilse und Walter in einem kleinen Zimmer unter dem Dach des Hotels Trianon in der Rue de la Harpe, wo auch Jean Genet zeitweise wohnt. Sie beschließen zu heiraten. Im Frühjahr 1935 erscheinen Ilse Winter und Walter Mehring vor dem Standesbeamten des VI.

Arrondissements. Marie wird benachrichtigt und erhält eine Reisegenehmigung aus »besonderem Anlass«, um für drei Tage dabei zu sein, wenn ihr einziges Kind das Ja-Wort sprechen wird. Sie kennt Mehring aus Berlin und hat sich »weiß Gott« einen anderen zum Schwiegersohn gewünscht, einen, der Ilse die Flausen aus dem Kopf treiben kann und ein Ziel im Leben hat. Mehring ist für Marie ein brotloser Literat und Hungerkünstler aus dem »verdammten« Theatermilieu, das ihre Tochter auf dem Gewissen hat.
    Mehrings Mutter, die Sängerin Hedwig Löwenstein, eine strenge alte Dame wilhelminischer Prägung, die ihren Sohn vergöttert und der jede Frau in seiner Nähe suspekt ist, reist gar nicht erst an. In letzter Minute fürchtet sich Ilse vor einem Leben in den kleinen Hotels und einer prekären

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