Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
zwei Stuben mit Wohnküche im Kellergeschoss. Gleich neben dem Küchenabgang richten sie sich einen lauschigen Gartensitzplatz ein. Als »Kattreiners Plätzchen« wird der Gartenwinkel in Maries Briefe eingehen. Ein wichtiger Ort für sie, er wird ihre letzte kleine Freiheit, ihre letzte »Laube«.
Mächtig, dieses Haus in Maries Leben! Die Landhausstraße Nummer 8 hat die von Mann und Tochter verlassene Frau an Berlin gekettet. Selbst als ihre Schwestern Annie und Hulda und auch Bruder Willi Deutschland längst verlassen haben und auch Patriarch Chaskel im November 1940 endlich »erlöst« ist, wird sie sich weiterhin an dieses Haus und seine Geschichte in ihrem »wenig glücklichen Leben« klammern. Mehr als diesen Ort hat sie sich für ihr Leben nicht mehr vornehmen können. Und so bleibt sie sesshaft, bis zu jenem 28.
März 1942, an dem sie ihre »Höllenfahrt« antreten soll und »reisefertig« zur Sammelstelle in der Moabiter Levetzowstraße bestellt ist – um dort, vielleicht sogar zur eigenen Überraschung, nicht einzutreffen.
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»Das Weitere überlasse ich der Zukunft.«
ILSE IM JAHR 1935
Der Reichstag brennt! Ilse befindet sich mit der Theatertruppe von Henny Porten und Carl Fröhlich mit dem Stück Alles um Eva auf einer Gastspielreise in Amsterdam. Nach der Aufführung erfährt sie im Funk von den Ereignissen in Berlin. Ilse stürzt ans Telefon und lässt sich mit Felix Gasbarra, der in der Yorckstraße 64 bei seiner Mutter Laura Weil wohnt, verbinden. »›Molz‹ – haben sie dich noch nicht verhaftet?«, schreit sie und ist außer sich vor Aufregung und Angst. Damit bringt sie ihren Geliebten in höchste Gefahr, denn Ferngespräche werden abgehört, und Gasbarra steht als Propagandamann der KP weit oben auf der Liste der Nazis. Ilse ist keine besonnene Frau – sie lebt alles im Augenblick. Sie zu kennen und zu lieben ist in Zeiten von Gefahr und Verfolgung auch gefährlich. Der wachsame Gasbarra weiß das und bricht seinen Kontakt zu ihr erst einmal ab. Nach dem Ende der Tournee in Holland hat Ilse keinen Grund mehr, nach Berlin zurückzukehren. Schon im Sommer 1933 sind alle Berliner Theater unter neuer Leitung und viele jüdische Schauspieler und Regisseure arbeitslos. Ilse hört Schlimmes, fürchtet sich und beschließt, nach Paris zu fahren, wo sich schon viele Freunde aufhalten, auch Walter Mehring, der seit Jahren zwischen Berlin und Paris hin und her lebt. Die beiden gefallen einander und ziehen zusammen, in kleine Hotels. Ilse liebtAbenteuer und ist womöglich auch froh, ihre Mutter auf Distanz zu haben.
Mlle. Ilse in Paris, 1934
Sie macht Gelegenheitsjobs und genießt, zweiundzwanzig Jahre jung, das freie Leben. Sie verdient kleines Geld in den Synchronstudios von Joinville, Walter schreibt in den Boulevards. Ilse verkehrt in der Russischen Kolonie, lernt Ilja Ehrenburg kennen und übernimmt Gelegenheitsarbeiten im kommunistischen Verlag von Willi Münzenberg. (Münzenberg, der Medienzar der KPD, produziert im Pariser Exil die rote Agitationspresse;den Gegen-Angriff und die Braunbücher , in denen die Verbrechen der Nazis denunziert werden.) Münzenberg ist ein bisschen in Ilse verknallt und geht gern mit ihr Russisches Billard spielen. Er füttert sie vormittags mit Croissants und beschwipst sie nachmittags mit Suze und Pastis. Bei guter Laune führt er Ilschen auch gemeinsam mit Walter zum »Sattessen« aus.
Ilse verbringt aufregende Tage auf dem legendären Schriftstellerkongress in den überfüllten Hallen der Mutualité, lässt sich noch ein Kind »wegmachen«, diesmal von einer Engelmacherin in der Banlieue Marnes la Coquette, und kümmert sich um den »verbrannten Dichter« Arthur Holitscher in seinem Elendsquartier in der Rue de Rennes. (Holitscher stirbt 1941 einsam in einem Männerheim der Heilsarmee in Genf. Die Totenrede hält Franz Musil.)
Noch ein letztes Mal reist Ilse nach Berlin: im Sommer 1934. Die Sehnsucht nach ihrer großen Liebe »Molz«, Felix Gasbarra, und ein »Auftrag« von Agitator Münzenberg lassen sie unvernünftig sein. Ihre Verbindung zu Münzenberg, den die Nazis in Abwesenheit zum Tod verurteilen, würde reichen, um Ilse in die Keller der Gestapo zu bringen. Doch Ilse schert das nicht. Sie lässt sich die Haare blond färben und macht sich mit einem Koffer voller Agitationsschriften auf die Reise nach Deutschland.
Ilse reist als »arische Schönheit«. Ihr Gesicht ist rundlich, der Schmollmund süß, und ihre hohen Wangenknochen machen sie
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