Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
fünfzig Jahren der Ahnungslosigkeit.
Damals fällt mir ein Haufen Unordnung, eine Grabbelkiste mit Dokumenten, zerfledderten Telegrammen, abgeblätterten Briefmarken – Hitler, Mussolini, Pétain, Helvetia –, blass oder heftig gestempelten Kuverts mit durchgestrichenen Adressenund Vermerken per lila Fettstift in die Hand. Mehr noch: durchsichtige Seidenpapiere, die von den Interpunktionszeichen einer Schreibmaschine durchlöchert sind, kleine hochformatige Notizbüchlein, ledergebunden in Rot, Blau und Schwarz mit goldenen Jahresprägungen: 1941, 1942, 1943. Ich blättere.
Es ist die schnelle, beinahe flüchtige Schrift von Ilse. Ihre Buchstaben fliehen vom Blatt, ich konnte sie zu meinem Ärger nie festhalten und lesen. Die Hälfte ihrer Briefe ging mir für immer verloren, möglich dass es Ilse mit den Briefen ihrer Mutter ebenso ergangen ist – history repeats . Staccato aus brüchigen Tagen. Das Adressbüchlein, rotes Leder, fein genarbt. Paris, Wien, Berlin, Brüssel, Prag, London, Lyon, Genève, Basel, New York, Chicago, Zürich. Telefonnummern, oft durchgestrichen und ersetzt. Mehrere Adressen unter demselben Namen zwischen die Zeilen geschoben. Auf jeder Seite Weiterreisen, Lebensschritte, Abschiede. Ich kann das spüren und fühle zärtlich viele Menschenwege. Unter M finde ich Walter Mehring. Nun kann ich anknüpfen – kenne einen und seine Geschichten, ahne, dass die Kartons Gefahrgut sind.
Ein Leinensäckchen, schwerer als seine Umgebung. Der feste Knoten ist Widerstand. Endlich klare Dinge: eine goldene Uhrkette und ein goldener Minenhalter, in den ein Graphitstift eingezogen ist. Und schon wieder Fragen: Wer trug das am Revers; Chaskel, Ischen, Willi, Felix?
Ein kleiner Stoß, viele Briefe im eigenen Kuvert. Bei fast allen anderen fehlt die Hülle, hier nicht. Beschriftet mit Ilses Adressen in Basel: Zossenweg, Sankt-Alban-Anlagen, Hardstrasse, Augustinergasse – von der Wehrmacht geöffnet, gelesen und mit Fischleim wieder verklebt. Von Ilse zurückgefaltet und sorgsam bewahrt – oder ob der Fülle nur einmal gelesen und hastig weggelegt? Blaublasses Seidenpapier, eng beschrieben, dicht genutzt, die Seiten randvoll beschrieben. Nur die Anrede kann ich lesen »Meine liebe Ille« oder manchmal »Illepuppe«.Das Datum fließt in den Text der ersten Zeile, links oben meist eine Zahl mit Bleistift – die Briefe sind nummeriert. Viele dieser dünnen, vollen Briefe. Die Schrift wird immer kleiner: 1940 – 1941 – 1942, mager und gedrängt. Auch Postkarten. Auf ihnen sind die Buchstaben winzig, die Zeilen eng. Ein Päckchen unbeschriebener Postkarten, vergilbt mit rot bedrucktem Wertzeichen, adressiert an: Marie Winter, Landhausstraße 8, Berlin–W, bleibt stumm.
Später zähle und ordne ich alles: einhundertzweiundsiebzig Briefe und Postkarten lagern in den beiden Bally-Kartons. Alle von Marie Winter an ihre Tochter Ilse. Der erste Brief vom 8.
Oktober 1938, die letzte Postkarte vom 7.
April 1942. Ich kann nichts lesen. Die Schrift ist krakelig und alt. Die Briefe und Postkarten von Marie erzählen von den Tagen, Monaten und Jahren, in denen die ganze große und stolze Familie nicht anders kann, als sich aufzulösen, um schließlich unterzugehen. Das weiß ich an diesem Nachmittag, als ich zwischen den Sonnenscheinflecken kauere, in denen der Staub aus den Kartons wirbelt, untrüglich, auch ohne Worte. Aus dem Schuhkarton schauen mich von vielen kleinen Fotos aus Menschen an, die ich noch nie gesehen habe. Starre Familienporträts mit jungen Männern in Uniform oder ernst blickenden Männern mit Frauen, die Winters in San Remo, Bilder von Bergsommern und Seepromenaden, lachende Männer im offenen Hemd, Offiziere auf dem Bänkli vor einer Almhütte, Japaner vor Bergkulisse, ein Mann mit dicker Brille auf einem Esel in einem Burghof. Ilse auf demselben Esel, Ilse lachend im schicken Kostüm, Ilse blond und jung im Theaterporträt, Ilse mit Japaner vor einem großen Hotel, Ilse auf einem Reitpferd, Ilse auf einer Kühlerhaube, Ilse mit Fred in einem Ruderboot, Ilse als ganz junge Frau am Ostseestrand im Strandkorb mit viel Familie und Freunden rundherum. Die Bilder zähle ich nicht – es sind viele.
Und dann, in einem separaten Kuvert, großformatige Fotos einer alten Dame, die gar keine Ähnlichkeit mit Ilse hat, die ich aber sofort als meine Großmutter erkennen will. Lange schaue ich eine Szene an, die sie auf einem Gartensessel aus Rattan zeigt. Sie ist von Blumen und Blättern
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