Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Ferne gerückt und auch kein Reizthema mehr. Ilse und Fred genießen das gewonnene Laisser-faire. Er poussiert nach Belieben und Ilse macht keinen Druck, ihre Situation ist nun dank akademischer Protektion auch ohne Eheversprechen vorerst gesichert. Fred bezahlt weiterhin ihre Miete und die etlichen Amüsements. Er ist die Woche über mit seiner Hemdenkollektion unterwegs, sie lernt es, Akademikerin zu sein. Ilse und Fred haben ihr loses und mit andauerndem Lustgewinn gestaltetes Arrangement zu Beginn des Jahres 1938 unter den Augen von Detektiv Schläfli und Fremdenpolizei-Chef Jenny komfortabel eingerichtet.
Wie an jedem ersten Januar schickt Mutter Marie ihre besten Wünsche zum Jahr 1938 an den »sehr verehrten Alfred Heim«. Sie setzt weiterhin auf Ehe, nun aber erstmals mit Eigennutz, denn nach ihrer Rückkehr aus dem Bergsommer ist sie einsamer geworden. Die Treitels beziehen in Tel Aviv ihre Wohnung an der HaYarkon Street 144 mit Blick aufs Meer und schicken erste Fotos, und Willi Eisenberg, mit dem sie noch vor einem Jahr den Umbau der Landhausstraße geplant hatte, lässt aus Paris hören, dass er nicht mehr nach Berlin zurückkehren werde, sie solledoch seine kleine Souterrainwohnung im Haus weitervermieten. Nur noch der betagte Vater Chaskel dämmert dank seiner Margarethe unbehelligt am Kurfürstendamm 101 vor sich hin. So wird sich Marie nach und nach darüber klar, dass ihr Lebensanker nur bei der Tochter sein kann. Noch ist ihr Leben in Berlin erträglich, sind die Einkünfte gut und der Freundeskreis intakt. Sollte sich das aber ändern, denkt sie sich, wird sie als Mutter einer Schweizerin mit hoher Wahrscheinlichkeit nachziehen dürfen – Garant für dieses Szenario ist in Maries Menschenverstand allein Fred Heim.
Im Frühjahr 1938 ist Ilse guter Dinge. Basel bietet Möglichkeiten und angenehme Bekanntschaften. Da ist der umtriebige Journalist Max Ras, Sachwalter der »kleinen Leute«. Er deckt Missstände auf und ist stadtbekannt. Da ist der Kunsthistoriker und linke Theologe Konrad Farner, der als Lektor für den traditionsreichen Basler Verlag Benno Schwabe arbeitet. Da ist der gut aussehende Fritz Belleville, ein Berliner Kommunist, der von der Partei 1932 in die Schweiz entsandt worden ist, nicht mehr zurückkehren kann und bei »Wohlverhalten« geduldet wird. Da ist Leni Elias in der Gundeldinger Strasse, die Tante der später berühmten Anne Frank. Da ist der umtriebige und arrogante Alfred Grabowsky, der in Arlesheim bei Basel das Weltpolitische Archiv aufbaut und sich von der Fremdenpolizei keinen Maulkorb umbinden lässt. In der Benkenstrasse 5 lebt eine gute Bekannte von Marie, die mondäne Hilde Löwe. Und seit Kurzem wächst die Freundschaft zu einer jungen, schlagfertigen und gescheiten Berlinerin, die in Basel Kunstgeschichte studiert: Maria Netter, eine Jüdin aus reichem Haus. Davon will sie allerdings nichts mehr wissen. Sie hat sich zum Entsetzen ihrer Eltern der Bekennenden Kirche angeschlossen und ist nach Basel gezogen, um bei Karl Barth Theologin zu werden. Doch nach einigen Semestern gewinnen Kunst und Fotografie die Oberhand.
Die verwandten Temperamente von Maria und Ilse finden sich in der kleinen Stadt schnell. Beide haben sich in den letzten Ausläufern der wilden Zwanzigerjahre »freigeschwommen«, sind unabhängig und emanzipiert. Mit Berlin haben sie im gemächlichen Basel eine gemeinsame Lebenserfahrung – und Sprache. Dass die Freundin lesbisch ist, könnte normaler nicht sein. In Ilses Schauspielschule sind sie es fast alle, und für eine Rolle im Film Mädchen in Uniform war Frauenliebe »Voraussetzung« gewesen. Diese Maria Netter hat es Ilse angetan, und für Maria ist Ilse eine Offenbarung im verklemmten und kleingeistigen Milieu der Basler Studentenschaft.
Ilse kauft sich ein Fahrrad, und gemeinsam unternehmen die Frauen Ausflüge in die nahen Täler des Juragebirges oder über die Grenze hinweg ins Elsass. Ilse geht es gut. Sie findet Beachtung und erhält auch Post von ihrem Professor. Im Schuhkarton haben Postkarten aus der Toskana überdauert, die Edgar Salin während einer Studienfahrt im Frühjahr 1938 an seine junge Hörerin und Vertraute seiner Kinder nach Basel adressiert:
14.
März 1938
Sehr geehrtes Fräulein Winter,
ich hätte mich gerne noch von Ihnen verabschiedet …
20.
März 1938
… alle guten Wünsche, Ihr ergebener E. Salin
30.
März 1938
Verehrtes Fräulein Winter,
am 2. beginnt unsere Rückfahrt. Nächste
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