Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
darauf steht dort nur noch der achtarmige Chanukka-Leuchter, neben dem aber keine Geschenke liegen, die kommen an Weihnachten, so wie bei allen Kindern in der Nachbarschaft.
Ilse ist eine starke Raucherin, vor allem nachts, wenn sie sich vor ihrer Remington mit Worten und Sätzen quält. Sie raucht Players, später North State und zuletzt Marylong. Oft werde ich abends in das nahe Hotel Waldhaus geschickt, um noch ein Päckli oder zwei an der holzgetäfelten Rezeption zu kaufen. Ilse raucht bis in ihr letztes Jahr, bis zum Sommer 1999.
Der lange Flur teilt sich am Ende in eine kleine Küche und in ein geräumiges Bad, wo jeder von uns sein eigenes Waschbecken hat. Ich will nie gleichzeitig mit meiner Mutter Hände waschen, Zähne putzen oder sie gar in der Wanne sehen. Schon der Gedanke daran ist mir unangenehm. Auch der Vorstellung von körperlicher Nähe zwischen ihr und mir versuche ich aus dem Weg zu gehen. Nie bitte ich um einen Gutenachtkuss – und bekomme auch nie einen.
An Ilses Geburtstagen bringe ich ihr Kaffee ans Bett. Im Lauf des Jahres will ich ihr Schlafzimmer nicht betreten. Ich fürchte mich vor ihren Träumen und ekele mich vor der Nachtwärme ihres Körpers. In dieser Wohnung leben Ilse und ich fünfzehn Jahre lang zusammen. In all dieser Zeit bringt sie keine fremden Männer ins Haus, und wenn doch, so habe ich es nicht gemerkt oder war nicht da.
Nie sehe ich Ilse weinen. In den Jahren unseres Zusammenlebens höre ich sie nie von Toden sprechen. Keine Unfälle, keine Trauer. Nie sehe ich sie in einem schwarzen Kleid aus dem Haus gehen. Ilse kann keine Tränen vergießen. Wenn ihr etwas nahegeht, presst sie ihre Lippen so fest aufeinander, bis sie ganzbleich werden, wirft den Kopf ins Genick und wendet sich dann mit einem jähen Ruck ihres ganzen Körpers ab, tonlos. Auch von ihrem Vater Felix oder der Mutter Marie wird nicht gesprochen. Von Großvater Chaskel Eisenberg, dessen Grab ich zusammen mit meinen Kindern David und Valerie 2004 auf dem Jüdischen Friedhof von Berlin-Weißensee unter einem Brombeerstrauch entdecke, will Ilse oft erzählen. Sie muss ihn sehr geliebt haben, während seiner Zeit ist Ilse behütet und bewahrt.
Immer wieder unternimmt Ilse den Versuch, ihr Leben aufzuschreiben. Sie weiß, dass sie viel zu erzählen hat und ihren drei Enkelkindern Saskia, David und Valerie eine Herkunft schuldet. Doch sie hat auch viel zu verbergen – vor sich selbst. So beginnt sie zaghaft und in vielen zerstreuten Fragmenten, Geschichten von früher aufzuschreiben. Die Version aus dem Jahr 1994, Ilse ist jetzt zweiundachtzig Jahre, beginnt so:
Ich beginne mich zu erinnern. Warum habe ich alles verdrängt? Um nicht achtzig Jahre zu sein? Keine Memoiren, immer im Augenblick sein wollen. Aber die Augenblicke bringen nichts mehr. Sieh doch zurück. Man kann sich nicht drücken. Gedrückt habe ich mich immer. Mit Geschick. Erzähl von dir. Lass es doch mal hochkommen. Gehört doch zu dir.
FRAGMENTE I
Ich will versuchen, die Geschichte meiner Familie zu erzählen, soweit sie mir bekannt ist. Der Holocaust des Deutschen Reiches hat bis auf wenige Dokumente alle Zeugnisse vernichtet. Mein Großvater mütterlicherseits ist um 1880 aus Russisch-Polen nach Deutschland ausgewandert. Mit ihm meine Großmutter. Ihr Mädchenname war Rifka Scheingold, die Tochter eines Rabbiners in Warschau. Großvater Chaskel Eisenberg begann als armer Schuster in Stettin, wo er in einem Keller Schuhe flickte. Zehn Jahre später war er ein reicher Mann. Er legte seinen jiddischen Vornamen ab und nannte sich in Berlin Christian Eisenberg. In seinem eleganten Schuhgeschäft Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße bestellte die Crème de la Crème aus Militär und Gesellschaft Reitstiefel. Über dem Eingang hing ein orientalisch verziertes Wappen: Hoflieferant des Schahs von Persien.
Großmutter lebte nur für ihre Familie – drei Töchter und zwei Söhne und für ihren Mann, der blendend aussah und ein Autokrat war. Sie starb 1918 an Krebs und an dem Schmerz über den Tod des jüngsten Sohns, meines Onkels Ischen (Isidor), der im Krieg gefallen war.
Die Familie wohnte in Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 139, in einer großen Wohnung, in der ich jeden Freitagabend verbrachte. Meine Tante Putz, die jüngste der Eisenberg-Töchter, hat mir oft erzählt, dass jeden Morgen eine Pferdekutsche vor dem Haus wartete, um die Geschwister zur Schule zu bringen. Pferde waren Großvaters Leidenschaft. Ich war das einzige
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