Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Mädchen unter seinen Enkeln und sein Liebling. Er nannte mich »Klein-Keckele«, und am Shabbath war mein Platz am großen Familientisch neben ihm. Ich will noch hinzufügen, dass bei meinen Großeltern der Tee auf dem silbernen Samowar zubereitet wurde, und natürlich waren an den Zimmertüren der großen Wohnung Mesusses [Mesusot, Mehrzahl von hebräisch Mesusa] angebracht.
Der Patriarch: Chaskel Eisenberg, um 1920
Ilse und ich sprechen hochdeutsch, so nennen die Schweizer die »Schriftsprache« im Gegensatz zu ihrer »Mundart«, die Ilse verstehen, aber nicht aussprechen kann. Zu Hause ist deutsch, und die Freunde und Bekannten sind es meist auch. In den ersten Jahren hat Ilse oft Besuch von Freundinnen und alten Kollegen aus Berlin, die am Schauspielhaus gastieren oder auf der Durchreise sind. Manche wohnen auch ein paar Tage im kleinen Gästezimmer und erzählen mir lange Gutenachtgeschichten. Viele kommen nur ein- oder zweimal, andere hingegen oft und gern. Zu ihnen gehört Walter Mehring. Er besucht Ilse immer am späten Nachmittag und bleibt zum Abendessen. Er kannwunderbar berlinern, und nie habe ich seine Geschichten aus der großen Stadt mit den vielen Lichtern und Theatern satt. Ich frage ihn ein Loch in den Bauch nach Nollendorfplatz und Bahnhof Zoo, nach Molle und Bolle. Ich bettele darum, und er rührt mich. Schon als Kind entwickele ich eine Ahnung davon, dass Walter und Ilse, dass Onkel Hans und Tante »Putz« und auch Emil und Gustav mit der Hupe und selbst der Ganove Grundeis ihre aufregende Welt, in der sie so viel erleben und in der sie zu Hause sind, verloren hatten. Es musste ganz wunderbar gewesen sein dort, denn alle meine Helden tragen prächtige Bilder in sich, mit Namen von Cafés und Menschen, mit Plätzenund Straßenecken. Sie machen Jahre zu Jahreszeiten, sie nehmen die Elektrische oder fahren mit der S-Bahn ins Grüne. Natürlich gehen sie jeden Tag ins Theater oder in eine Revue. Immer kommen sie im Gedränge der Großstadt zu spät zur Vorstellung – Ilse kommt ihr Leben lang immer zu spät. Und natürlich treffen sie sich unaufhörlich mit Freunden und Intriganten, mit Verehrern und Hochstaplern.
So möblieren alle Besucher in Ilses Wohnung ihre Erinnerungen. Ihre Bilder werden mir zu Räumen, zu Straßen, zu einem rasend rieselnden Kaleidoskop voller Lärm und Neon. Es wird so mächtig, dass ich als kleiner Junge fast jede Nacht von dieser rauschhaften Stadt träume und am Tag gar nicht verstehen kann, warum Ilse und Walter und die vielen anderen nicht dort leben und noch immer dort sind, statt sich am stillen, eintönigen Waldrand über Zürich gemeinsam danach zu sehnen.
Mehring ist ein raffinierter Spötter und sarkastischer Charmeur. Für ihn ist Ilse immer noch die zwanzigjährige Schauspielerin, mit der er vom Kakadu aus in die Nächte zieht, die bei Tagesanbruch Mampe und Prärieauster schlürft und Stullen mampft und im Leben wie im Rollenfach gern die Lulu von Wedekind gibt. Ilse mag dieses Spiel, denn es handelt von den guten Erinnerungen. Wenn ich aber frage, warum wir alle nicht mehr dort sind und warum ich nicht dort zur Schule gehen darf, wo es doch so viel zu sehen und immer wieder davon zu erzählen gibt, da bekomme ich kaum eine Antwort, allenfalls knapp: »Du sollst dem lieben Gott danken, dass du damals nicht auf der Welt warst.« – Warum? Das gefällt mir nicht, was hat das mit meinem lieben Gott zu tun, zu dem ich vor dem Einschlafen »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« bete?
Mehring trägt notorisch Bücher in seinen ausgebeulten Jackentaschen herum, und in jeder freien Minute, wenn Ilse kurz zur Küche geht oder das Telefon klingelt, greift er nach einemBändchen und versinkt in dem grünen Sofa. Ich mag Walter gern, denn er ist nicht viel größer als ich, hat flinke Augen, kleine Händchen mit Spindelfingern und ist schlagfertig. Mit fünf oder sechs Jahren fordere ich ihn ernsthaft zu Boxkämpfen heraus. Er nimmt an, und viele Jahre lang fighten wir bei jedem seiner Besuche im langen Flur der Wohnung verbissen miteinander. Als ich stärker werde und Walter immer mehr schrumpft, ist Schluss damit. Er ruft mich zu seinem Meister aller Klassen aus, und als ich zwölf werde, schenkt er mir ein signiertes Bändchen seines Ketzerbreviers: »Für Gabriel, den jungen – Engel – von dem greisen ›Dichter‹ Walter.« Ilse freut sich immer auf Mehrings Besuche. Ich spüre, dass die beiden viel Gemeinsames miteinander gehabt haben, so wie ich sie in
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