Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
ihre verlorene Zeit schlüpfen sehe.
Meist, aber besonders wenn Besuch da ist, werde ich früh ins Bett geschickt. Mehrings schnarrende und durchdringende Stimme und Ilses helles Lachen dringen bis spät in mein Zimmer. An diesen Tagen sehe ich den Alexanderplatz an der hohen Decke und schlafe im Schein der vielen bunten Lichter ein, die in meinem Berlin gerade angezündet werden.
FRAGMENTE II
Die zweite Generation: die Kinder von Chaskel und Rifka Eisenberg.
Den jüngsten Sohn Isidor habe ich nicht mehr richtig gekannt. Ischen war der Stolz seines Vaters. Er ist als Träger des Eisernen Kreuzes Erster [1.] Klasse an der Marne gefallen. Auch das bewahrte seinen Bruder Willi und unsere Familie nicht vor Deportation und Verfolgung durch das Hitler-Regime.
Onkel Willi wurde von mir vergöttert. Er liebte und verwöhnte mich und hatte Verständnis für alle Wünsche, alle Sorgen, alle Dummheiten.
Er war ein herzensguter Mensch, war nie verheiratet und führte ein mondänes Leben im Berlin der Zwanzigerjahre, begleitet von seinen zwei Russischen Windhunden. Willi Eisenberg war ein bekannter Architekt. Zusammen mit dem Großunternehmer Koritowski baute er das Hotel Eden oder den Kinopalast Marmorhaus.
Unter den vielen Freundinnen meines Onkels erinnere ich mich vor allem an eine entzückende junge Polin, Karola Piotrikowsky, ich glaube, sie war nicht älter als achtzehn Jahre. Wir nannten sie »das Küken«. Onkel Willi flüchtete vor den Nazis 1934 nach Paris.
Tante Anni, die zweitälteste der Mädchen, war eine bescheidene Frau. Ihr Mann, Bob Kanitz, ein Prager Jude, hatte sich in Wien noch zu Kaisers Zeiten taufen lassen und konnte so Karriere machen. Trotzdem war es eine gute Ehe, und in seinen zärtlichen Augenblicken nannte er Tante Anni »mein geliebtes Weichtier«.
Ihr Sohn Fritz, genannt Bibi, ging auf die feinste Schule von Wien, das Schottengymnasium. Als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte und unter dem Jubel der Bevölkerung die Verfolgung der Juden proklamierte, rettete die christlich humanitäre Gemeinschaft der Quäker der Familie Kanitz das Leben. Sie konnte nach England fliehen und lebte bis zu ihrem Tod in London, wo ich sie oft besucht habe.
Zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit gehören die Sommerwochen in der Mark Brandenburg bei Tante Putz und ihrem Mann Hans Treitel und meinen Cousins Peter und Fritz. Der Ort meiner glücklichen Tage hieß Hegermühle, eine Siedlung am Finowkanal bei Eberswalde. Dort war Onkel Hans Chefingenieur bei Hirsch Kupfer, dem größten Messingwerk Deutschlands. Tante Putz führte ein offenes Haus. Sie war temperamentvoll, gesellig, sehr hübsch und elegant. Dort bildeten sich Freundschaften, und es gab Feste für Groß und Klein mit Musikkapelle und Feuerwerk. Und wenn sich meine Mutter an den Flügel setzte und mit ihrer wunderbaren Altstimme Schubert-Lieder sang, war es der Höhepunkt des Abends.
Bald nach der »Machtübernahme« wurde Messingwerk auf Rüstung vorbereitet, und die Chefposten [wurden] mit Parteigängern besetzt.
Von Ilse weiß ich schon früh, dass sie in einer wichtigen Berliner Klinik, die den merkwürdigen Namen Charité trägt, zur Welt gekommen ist. Sie war also von Anfang an ein besonderer Mensch, denke ich mir, denn keine Mutter meiner Schulfreunde oder Nachbarkinder kann irgendetwas Interessantes über die eigene Geburt erzählen. Ilse jedoch kann und wird durch ihren zweiten Vornamen, Victoria, ein Leben lang daran erinnert. Den bekommt sie von Professor Straßmann, dem Prominentenarzt unter den Gynäkologen Berlins. 1912 hat Straßmann sie mit gewagtem Kaiserschnitt ins Leben gezerrt. Ilses Mutter Marie hatvon Kindheit an eine verkrümmte Hüfte und kann – dreimal schwanger – die Kinder nicht lebend zur Welt bringen. Mit viel Mut hat sie noch einmal alles gewagt, um ein gesundes Kind zu gebären und doch noch Mutter zu werden. So ist Ilse von ihrem ersten Atemzug an dazu bestimmt, Maries Leben Sinn zu geben. Die Geburt von Ilse Victoria wird Maries Lebensglück. So will sie von nun an nur noch für ihre »Illepuppe« auf der Welt sein.
FRAGMENTE III
Und nun komme ich zu meiner Mutter Marie, genannt Mieze.
Mieze war eine schöne Frau, die intelligenteste unter ihren Schwestern, voller Lebensfreude trotz ihres Gebrechens. Sie erkrankte als Kind an Kinderlähmung. Seither hinkte sie und ging am Stock. Ihr innigster Wunsch war ein Kind. Für Chaskel war es ein ungeschriebenes Gesetz: Unter seinen Töchtern musste
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