Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
werden alte Kissen aus dem Keller geholt, und Tschibi springt in das dunkle Verließ.
Ilses Hund Ajax, eine Rauhaarbracke aus der Steiermark, den wir an einem Sonntagmorgen aus dem Zollfreilager am Güterbahnhof abgeholt haben, streckt sich dann tagsüber vordem Schrank und bewacht die Katzenfamilie. Von dem Wurf der jeweils vier oder fünf Kätzchen behalten wir nur zwei. Die Italienerin oder Spanierin aus dem Souterrain besorgt das Wegmachen. Ilse ist zuständig für das Aussuchen. Wenn ich aus dem Kindergarten oder von der Schule nach Hause komme, bin ich gespannt, welche zwei es geschafft haben. Für mich ist diese Auslese völlig normal, denn es wird bei uns immer so gemacht.
Noch spannender ist der Sekretär. Viele kleine Schubladen und Kästchen und auch ein »Geheimfach«, das aber wie alle angekündigten Verstecke leer bleibt. In den Schubladen befindet sich Ilses Schmuck. Die jemenitischen Halsketten und silbernen Armringe, die sie von unserer ersten Reise nach Israel zu den Überresten ihrer Familie – zu Onkel Hans und Tante »Putz« und den Vettern Peter und Fritz – mitgebracht hat. Die vielen Ohrringe mit den bunten Steinen, der Solitär, der später verloren geht, und die vielen kleinen Schächtelchen mit meinen Milchzähnen und Haarlöckchen. Überall verstreut kleine Glücksbringer und Amulette, Notizbüchlein und Kunstpostkarten, Lackdöschen mit fremden Münzen, Bleistifte, Oropax-Schächtelchen, alte Portemonnaies, Visitenkarten. Auf dem Sekretär kleine Schildpattrahmen mit Kupferstichen. Und was mir erst in der Erinnerung deutlich wird: keine Fotografien. In der ganzen Wohnung gibt es keine einzige Fotografie zu sehen! Kein einziges Gesicht, kein Blick, nach dem ich fragen kann.
Das Wohnzimmer ist schwer und behaglich. Vor dem Fenster steht Ilses Schreibtisch. Sie hat ihn bei Vladimir Rosenbaum in Ascona gesehen, gekauft hat ihn Fred Heim um 1944 oder 1945, damals frisch mit Ilse verheiratet und spendabel. Die Tischplatte aus dunklem Nussholz hat viele Wunden und Kerben – Ilses Folterbank, denn auf diesem Tisch steht, solange ich mich zurückerinnern kann, gedämmt durch eine schwarze Unterlage aus Filz, die kleine Remington-Schreibmaschine. Abends beginnt sie zu klappern bis spät in die Nacht. Kurz vor jedem Zeilensprungsingt ein helles, metallisches Signal – das frohe Glöckchen meiner Nachtmusik; ich kann es heute noch hören.
1945 wird Ilse Journalistin. Kluge Männer, Feuilletonchef Rychner, Theaterdramaturg Hirschfeld und Freund Erich Kästner, haben ihr dazu geraten, sie auf den Weg gebracht. Ilse ist so bildhaft wie schwatzhaft, neugierig und hartnäckig, fabelhaft charmant und blitzschnell. Das hat geholfen, aber nicht beim Schreiben. Ihre Angst vor dem leeren Blatt ist groß, wird übermächtig und lähmt sie oft über Wochen. Das Telefon klingelt unaufhörlich. Dann ist sie sehr verzweifelt, das Telefon klingelt ins Leere, sie droht mir immer wieder, sich umzubringen. Das habe ich ihr schon als Kind zu keiner Sekunde geglaubt, nie habe ich Mitleid mit ihr.
Die beiden Längswände des Salons sind mit Bücherregalen bis zur Zimmerdecke verstellt: lederne Buchrücken, Bildbände, Gesamtausgaben, Dünndrucke und bibliophile Editionen. Vieles davon hat Ilse in ihren Basler Emigrationsjahren antiquarisch zusammengetragen oder wurde fleißig von ihrer Mutter Marie in Berlin besorgt und mühsam zugeschickt. Auch Ilses Pariser Exil hat hier seinen Platz gefunden; Bände der Pléiade und viele broschierte Ausgaben, Bücher, die zur Lektüre mit einem scharfen Messer aufgeschnitten werden müssen. In der Regalnische: »Jacques«, eine Radierung von Erich Heckel. Nur dieses eine Bild hinterlässt Ilse mir. Woher dieser nachdenkliche Jünglingskopf, wo sie doch sonst keine Originale an den Wänden hat? In der Dolderstrasse 111 bin ich umstellt von stummen Zeugen. Vergangenes und Erloschenes beobachtet mich. Ich bin das Licht, in dem Ilse ihre Schatten zu beherrschen sucht. Vor dem Kamin stehen das nierenförmige, mit dunkelgrünem Cordstoff bezogene Sofa und links und rechts davon zwei bequeme, dazu passende Sessel. Ein niedriger Tisch mit schwerer schwarzer Schieferplatte auf dünnen Holzbeinchen drängt sich zwischen die Fauteuils.
Im Herbst und Winter darf ich ein kleines Feuer anfachen und Marroni braten. Einmal, es muss Weihnachten 1956 sein, denn wir haben ungarische Flüchtlingskinder zu Besuch, spreizt sich ein kleiner Weihnachtsbaum auf dem Schiefertisch. In den Jahren
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