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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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heute Schluss! Glaube nicht, dass ich mir die Dinge mit Deiner Mutter nicht sehr hätte durch den Kopf gehen lassen. Ich habe mit Menschen darüber gesprochen. Aber das Ergebnis ist immer wieder das gleiche. Eben fällt mir noch ein, willst du nicht mal zum italien. Konsul in Basel oder Zürich gehen?
    Persönlich kann man – namentlich Du – ja doch eher etwas erreichen, und gegen Frauentränen sind sie ziemlich machtlos.

    Sei sehr herzlich gegrüßt wie stets von Deinem alten
GAS.
    Der 1.

September 1939, der Tag des deutschen Überfalls auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkriegs, wird in Maries Briefen nicht thematisiert. Zu dieser Zeit telefonieren Mutter und Tochter allerdings hin und wieder, sie tauschen sich also auch mündlich aus. Am 8.

September kündigt Marie an, dass sie zwei Tage später, an Ilses Geburtstag, versuchen werde, sie telefonisch zu erreichen. Den Gedanken, dass die Tochter, obwohl nur eine Tagesreise entfernt, für sie unerreichbar ist, kann sie kaum ertragen:

    Heute ist ein Wiedersehen genauso unmöglich, als trennten uns Welten voneinander, für mich ein unsagbar schmerzliches Gefühl. Mein bisschen letzte Kraft raffe ich mit aller Energie zusammen, mich an diesem Glauben zu stärken, und ich tröste mich mit der Voraussetzung, dass es Dir dort hoffentlich weiter in irgendeiner Form ermöglicht werden wird, unter einem guten Stern zu leben.
    Die Vorsehung hat es ja schon oft in für Dich harten Stunden dennoch gut mit Dir gemeint und alles zum Guten gewendet, und dafür will ich am Sonntag beten, wenn ich zu Vati gehe, wir haben ja bald Feiertage, und da gehe ich auf den Friedhof und in die Synagoge.
    In welcher Synagoge betet Marie? In ihrem zerstörten Tempel in der Prinzregentenstraße können keine Gottesdienste mehr abgehalten werden. Wahrscheinlich besucht sie eine der drei noch »verschonten« Synagogen. Für die »Wilmersdorfer« kann das nur die in der Münchener Straße sein.
    Ilses Pass ohne »J«
    In der Landhausstraße 8 machen sich neue Sorgen breit. Baron Kaskel ist seit Kurzem sehr beunruhigt, ob man ihm jüdische Zwangsmieter in seine beiden gemieteten Räume setzen werde. Bei dem Wohnungsmangel und den Unmengen von Flüchtlingen aus allen Gegenden bestehe die Aussicht, dass alle »überflüssigen« Räume besetzt werden. »So kommt man vor lauter Bedenken und Unsicherheiten über seine Lage von einer Sorge in die andere«, stellt Marie fest. Ihr Baron sei entsetzlich abgemagert, »es tut mir weh, ihn so zu sehen, und dass er das noch erleben muss, ist grausig. Aber noch nützt all das Erwägen hin und her gar nichts.«
    Kaskel will zusammen mit Marie Winter deren Rechtsanwalt Dr.

Franz Eugen Fuchs aufsuchen, um zu erfahren, ob ihn ein regulärer Mietvertrag, der bisher nicht abgeschlossen wurde, vor der Einweisung weiterer Mieter in seine kleine Dachwohnung schützen würde. Dr.

Fuchs, der schon seit einem Jahr mit dem Berufsverbot als Rechtsanwalt belegt ist, gehört zu dem kleinenKreis jüdischer Anwälte, die ihre jüdischen Klienten unter dem Status eines »Rechtskonsulenten« vertreten dürfen.
    Auch für Maries Wohnsituation bahnt sich eine große Veränderung an. Sie muss im eigenen Haus umziehen – hinunter in die kleine Kellerwohnung. Die schönen hellen Räume im Erdgeschoss mit Wintergarten, Ess- und Wohnzimmer hat sie zu räumen. Das Haus füllt sich mit neuen Mietern. Anfang September bestellt sie einen Fotografen, um sich noch einmal in den großen Räumen mit all ihren Erinnerungen an die piekfeinen Zeiten in Pose zu setzen. Marie nimmt Abschied:

    Berlin, den 18.

September 1939
    Liebste Ille,

    hier sind ein paar Bilder, die ein Bekannter gemacht hat, weil ich gern mein gemütliches Wohnstübchen, so gut es ging, als Erinnerung behalten wollte.
    Ich selbst bin ja überall fleißig, aber das ist ja nicht wichtig. Der Mann hatte auch dermaßen viel mit seiner Beleuchtung und sonstigen Vorbereitungen angegeben, dass ich ganz nervös davon wurde, was man mir direkt ansieht.
    Hast Du mein Päckchen mit dem Hemd erhalten, und passt es Dir? Ich hatte viel Ärger damit, da eine Wäschenäherin, eine schreckliche Träumerin, es viel zu eng machte. Allein hätte ich es viel besser gemacht, aber es sollte besonders schön werden.
    Und Du musst jetzt den Postillon d’Amour machen, alle Nachrichten zu vermitteln. Wenn ich nur wüsste, was mit Kanitzens – Schwester Annie und Ehemann Bob – auf ihrer Channel Island geworden ist. Kannst Du

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