Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
liegt ferner denn je.
Fred und seine Brüder haben drängende Sorgen. Sie müssen die Fabrik retten. Der Umsatz ist eingebrochen, und es drohen Krieg und Verstaatlichung ausländischen Eigentums. Auf ihn werde sie wohl nicht mehr zählen können, schreibt sie der Mutter – vielleicht auch ein wenig erleichtert. Marie antwortet umgehend, deutlich und rabiat. Sie ist außer sich, spürt, dass die Tochter und mit ihr auch sie selbst in Gefahr geraten.
Berlin, den 24.
November 1939
Meine geliebte Ille,
Was soll all das Gewesene und falsch Gemachte für einen Zweck gehabt haben, man war gefühllos wie ein Fleischerhund und sieht jeder Gemeinheit kalt ins Auge, sodass ich mich mit meinem Schicksal wie Tausende abfinden muss, und auch Du musst es dort, wenn Du es nicht ändern kannst, dass für Dich (nicht zu sprechen von mir, denn ich bin alt und habe nicht mehr viel zu verlieren) und Deine Zukunft alles zunichte wird. Und das nur, weil ein Mann seine Verpflichtung in letzter Minute nicht 100-prozentig fühlt.
Bei vielen diesbezüglichen Unterhaltungen mit ihm hat er mir stets versichert, ich bin ein anständiger J. und weiß, was ich Ihrer Tochter schul dig bin. Es gibt einfach jetzt keine Ausreden mehr, oder er ist ein Lump, der nicht wert ist, Dir die schönsten Jahre gestohlen zu haben.
Wenn er Dich wirklich liebt, so hat er jetzt einen Dreck nach seiner verblödeten Familie zu fragen, die Zeiten sind so, dass jeder sagt: sauve qui peut!
Was hat er denn für einen Grund, Dich nicht zu seiner Frau zu machen und Dir seinen Namen zu geben? Hat er etwa Furcht, dass ich ihn belaste? Ist das ein Mann, oder ist es ein Hanswurst, der heute mit den angeführten Argumenten noch immer Hintertüren sieht? Er braucht doch keine Angst zu haben, dass er als Ehemann mehr Ausgaben hat als jetzt. Vielleicht wirst Du ihn manchmal ernähren können und müssen, kann man alles nicht wissen.
Wenn Du nicht schnellstens, wie Du ja selbst vorhast, eine endgültige Bindung erwirkst, so bleibt Dir kein anderer Weg.
Ob Fredi verzappelt ist mit seinen Geschäften oder nicht, ist absolut belanglos, hier heißt es jetzt Farbe bekennen, Kämpfen und Ringen um jeden Tag hat man gelernt, und Kinderspiele birgt das Leben nicht mehr, also auch darin hart auf hart. Meine Sätze hier enthalten unendlich viel Schmerz, und laut herausschreien möchte ich die Schwere meines vollen, kranken Herzens. Ach, dass man sich nicht fest einander anlehnen kann und einander seine Tränen spürt, die fließen, dass man Ströme bilden könnte, doch was soll man tun, immer fällt man zurück in ein Nichts, unabänderlich vielleicht.
Dein Brief ist soo lieb und doch so, als wären die Seiten leer. Felsen und Welten trennen uns vielleicht für lange oder ganz.
Lebe wohl und tröste Dich, dass es Millionen Menschen noch schlimmer geht als uns momentan, was der Morgen bringt, ist ungewiss.
Dich herzhaft küssend –
Deine Mutti
Wenn auch keine Ehe mit Fred Heim in Sicht ist, so begreift Ilse doch, dass sie handeln muss – auch um die erste deutliche Bedrohung ihres so bequemen Refugiums abzuwenden. Mit EdgarSalin hat sie einen guten und ergebenen Ratgeber. Ihm ist klar, dass schnell etwas geschehen muss, Spekulationen auf eine baldige Heirat sind sinnlos. Der Professor macht unmissverständlich klar, dass er auf diesem Weg unter keinen Umständen der Retter sein wird, obwohl er als geschiedener Mann durchaus wieder ehefähig wäre. Also müssen andere Tatsachen herbeigeholt werden. Ilses Studium soll nun – für alle sichtbar – zielstrebig vorangetrieben werden, Resultate erbringen, zunächst schriftliche Seminararbeiten und sehr bald auch die Dissertation. Den Vermerk der Eidgenössischen Fremdenpolizei, der Aufenthaltszweck sei mit Ende des Semesters erfüllt, gilt es zu widerlegen.
In der Hardstrasse werden Arbeiten angedacht und die Doktorarbeit geplant. Doch wie soll Ilse das schaffen? Seit ihrem Abgang aus der Obersekunda hat sie keine Aufsätze mehr geschrieben, geschweige denn eine wissenschaftliche Arbeit vorgelegt.
Salin wird fündig. Vor Kurzem erst hat sich ein Doktorand bei ihm für die schönen Tage auf dem Sternenhof bedankt.
Basel, den 12.
Juni 1939
Sehr geehrter Herr Professor!
Die Tage auf dem Sternenhof haben mir wirklich gutgetan und scheinen auch nötig gewesen zu sein für mich, denn ich habe dort in dieser kurzen Zeit 5 Kilogramm zugenommen. Es ist für mich kein angenehmes Gefühl, nur zu nehmen wie ein Bettler. Doch
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