Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
nicht an Onkel Willi ein Telegramm senden mit »Mutti und Großvati gesund«, damit er beruhigt ist?
Es ist furchtbar, dass ich nicht weiß, was er macht und was mit ihm geschehen ist. Ach Gott, wie wirkt sich das nur alles entsetzlich aus!
So kommt man vor lauter Bedenken und Unsicherheiten über seine Lage von einer Sorge in die andere. Dass Gasbarra so besorgt an uns denkt, ist rührend. Kann er mir nicht helfen, nach dort zu kommen? Wenn man wie ich ein Affidavit hat, hörte ich, nimmt Italien als Zwischenaufenthalt auf, frage doch mal eben.
Was meinst Du überhaupt zu meiner Idee, dass wir beide nach USA pilgern, wenn meine Quote [Wartenummer für ein Visum in die USA] eventuell durch die veränderten Verhältnisse schneller vorrückt? Diesen Dauerzustand auf Jahre hinaus mitzumachen überlebe ich nicht. Darum muss man mal darüber nachdenken, was meinst Du dazu?
Also bitte, mein Gutes, Schreiben selbst ist das Einzige, was uns zusammenhält! Darum bitte ich Dich, darin nicht nachlässig zu sein. Bleibe mir gesund und lass sofort über alles von Dir hören.
Mit herzlich-inniger Umarmung und 1000 Küssen,
Deine Mutti
Nach Kriegsbeginn wird Ilse zum Kummerkasten ihrer Familie. Dieser steht in der Alban-Anlage 39, einer gepflegten Alleestraße im »guten Basel«. In ihrem Apartmenthaus wohnen Architekten und Direktoren, vermögende Witwen und Ingenieure. Die Miete wird auch weiterhin von Fred Heim beglichen, im Adressbuch der Stadt wird Ilse Winter immer noch als Schauspielerin geführt. Der Briefkasten im gefliesten Eingangsflur ist noch ahnungslos, die Post aus Berlin noch spärlich, und auch die weiter entfernte Diaspora – Tel Aviv, London, Paris, Chicago, New York – rührt sich noch nicht.
Das wird sich ändern. Der Briefkasten wird nach Ilses Leben greifen. Aus ihm tönen Hilferufe in mageren Kuverts, er wird nicht zustellbare Sendungen und böse Ahnungen bescheren, neben vielen Vertröstungen und Zettelchen verstörter Liebhaber. Er ist ein Schicksalsort für die nun siebenundzwanzigjährige Ilse Winter.
DIPL. ING.
WILLI EISENBERG
31 BIS RUE MOLITOR
AUTEUIL
Auteuil, den 3.
Oktober 1939
Liebste Illepuppe!
Erst vorgestern erhielt ich Deinen lieben Brief vom 24. 9., da die Post durch die französische Zensur lange Verzögerungen hat. Ich bin hier in einem mehr als scheußlichen Schwebezustand. Ich habe mich allen infrage kommenden Behörden zur Verfügung gestellt, um wenigstens meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber noch keinerlei Antworten bekommen. Deine Meinung, dass man jetzt hier gut verdienen könne, ist leider besonders irrig. Ich muss noch froh sein, dass man mich noch nicht in ein KZ-Lager abgeholt hat, aber der Zustand wird immer unerträglicher.
Im Haus bin ich mutterseelenallein, dazu kommt noch, dass das Telefon aufgekündigt ist, ich also fast ganz von der Außenwelt abgeschnitten bin. Z.
K. [Zum Kotzen]!
Dass es Mutti so verhältnismäßig gut geht, ist ja die schönste Beruhigung in dieser schrecklichen Zeit. Kannst Du Deine schöne Wohnung nicht möbliert vermieten u. dir vorläufig ein möbl. Zimmer nehmen? Deine ganzen dortigen Freunde werden Dich doch nicht im Stich lassen! – Kommt Fred nicht mal gelegentlich nach Paris, dass ich Verschiedenes mit ihm besprechen kann?
Schreibe doch bitte der Mutti ausführlich von mir, da ich ihr ja doch nicht schreiben kann. Sie möchte auch den Zarinzewski schön grüßen, ebenso die liebe Kücken. – Beim Anblick von Muttis Fotos in meinem alten gemütlichen Keller bin ich recht melancholisch geworden!
Dazu die leidenden resignierten Züge der armen verlassenen Mutti! – Ob wir noch, u. wenn, eine Änderung der Weltlage erleben? Ich glaube, aus der Politik der Mächte kann niemand mehr klug werden! Aber hoffen wir das Beste. – Ohne Freunde wäre es aus mit mir! Doch der Gedanke, dass ich Muttis Amerika-Papiere erhalten soll, ist zu schrecklich! Aber vielleicht ist es das Sprungbrett zu Besserem!
Leb wohl, meine geliebte Ille, wir sollen uns gegenseitig Mut machen!
Ich umarme Dich von ganzem Herzen.
Dein Onkel Willi
Am 4.
November 1939 stellt die Eidgenössische Fremdenpolizei Fräulein Ilse Winter die Verfügung zu, sie habe die Schweiz bis zum 31.
März 1940 zu verlassen. Begründung: »Überfremdung«. Ilse, die immer in guter Zuversicht gelebt hat, spürt zum ersten Mal Beklemmung. Sie schreibt sofort an die Mutter, versucht, sie und sich zu beruhigen. Reell ist das nicht, denn eine Heirat mit Fred
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