Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
21.
März 1921 hier. Ein stattliches Erbbegräbnis zweiter Klasse mit Chorgesang und Grabschmuck. Schwer lesbar die Inschrift, aber noch leidlich aufrecht der Stein. In Berlin nannte sie sich Regine.
Von Chaskel keine Spur. Weiter und weiter spreizen wir die Dornenäste, biegen beiseite und treten nieder. Nichts. Sollte er 1940 keinen Stein mehr bekommen haben, waren die jüdischen Steinmetze schon zu anderer Arbeit weggebracht, war Chaskel gerade noch rechtzeitig eingeschlafen, um den letzten Gang zur Grube nicht selbst gehen zu müssen? Solche Gedanken haben wir – und können sie nicht verjagen; sechzig Jahre später. Doch David gibt nicht auf, Valerie will pflanzen, also roden wir weiter.Nach einer Zeit erhebt sich ein kleiner, vielleicht zehn mal zehn Zentimeter breiter Steinblock aus der weichen Erde. Kein Platz für einen Namen, kein Platz für eine Inschrift, nur eine Nummer, die Nummer des Grabes, die steinerne Tätowierung eines vergangenen Lebens: 59
500. Also doch – hier haben sie an jenem Novembertag gestanden, und kein Sohn war da, um das Totengebet zu sprechen: Isidor an der Marne gefallen, Willi in Baracke sechs interniert – weit weg mit eigener Lebenstrauer befasst. Ein Fremder wird das uralte aramäische Gebet »Yisgadal Viyiskadash« sprechen und dafür von Marie 10 Reichsmark bekommen.
Wer ist noch da? Marie schreibt:
Berlin, den 26.
November 1940
Bei schönem Wetter geleiteten ihn die paar wenigen Menschen, Freunde von mir, auf den letzten Weg […] Es war seit mehr als einem Jahr eine Qual für mich, zu sehen, wie ein einstmals so blühender, sonniger Mensch so langsam abstirbt. Das haben meine Geschwister wenigstens nicht nötig gehabt zu durchleiden. Hast Du Onkel Willi Großvaters Ableben geschrieben – und an meine Schwestern?
Noch einmal sieht sich der klägliche Rest dieser einst großen Familie auf dem Friedhof Weißensee. Maries beste Freundin, Marta Baum, ist sicherlich auch mitgekommen, möglicherweise Grete Treitel, obwohl sie mit 61 Jahren noch jeden Morgen um fünf Uhr zur Fabrikarbeit aus dem Haus muss. Vielleicht auch Claire Tuchband aus Steglitz und Lotte Ucko aus dem Bayerischen Viertel und ganz bestimmt Chaskels zweite Frau Margarethe Eisenberg, geborene Joseph, die auf den Tag zwei Jahre später ganz in der Nähe beerdigt wird; sie erhängt sich in ihrer Wohnung. Und weil wir gerade beim Sterben sind: Die ganze kleine Trauergemeinde geht nur wenig später dahin. Lotte Ucko,Claire Tuchband, Marta Baum – alle weg, »abgewandert«, »nach dem Osten«, Marie hat noch einen längeren Weg vor sich.
Meine Kinder hören und spüren viel an diesem Ort ihrer Geschichte. Um uns scheint es noch stiller zu werden. In den Brombeeren surren Bienen, in den Ästen der hohen Bäume hocken freche Raben und Elstern, und hoch oben sausen die Schwalben. Valerie setzt die leuchtenden Sonnenblumen, eine für Rifka, eine für Chaskel. Ich mache ein Foto.
David und Valerie mit Chaskel, Berlin-Weißensee 2004
Anfang Januar 1941 trifft ein Brief von »Putz« Treitel aus Tel Aviv bei Ilse ein.
Geliebte Illemaus –
Die Nachricht von Papas Tod hat uns natürlich alle sehr erschüttert. Dieser verwöhnte und anspruchsvolle Mann hat ein besseres Ende verdient. Als wir Kinder und Kindeskinder so nach und nach von ihm Abschied nahmen, wusste er genau, dass das ein Abschied fürs Leben ist. Es war mir so schrecklich, ihn zurücklassen zu müssen. Aber ebenso schlimm war es, Deine Mutter zurücklassen zu müssen, obgleich ich den festen Glauben hatte, dass Du sie doch bald bei Dir haben wirst.
Wir hier konnten damals nichts für sie tun, und gar jetzt ist das ganz unmöglich, hier bekommst Du für sie kein Certifikat, da sie im Feindesland ist. Dort aber lässt man sie wohl nur unter Zurücklassung all ihrer letzten Habe gehen. Was soll nun aber wirklich mit ihr geschehen, damit sie, gottbehüte, nicht das gleiche Schicksal trifft wie Tante Rosel?
Aber ich möchte wirklich schon zufrieden sein, wenn ich nicht die Sorge um Euch alle hätte. Warum muss ich eigentlich auch Sorgen um Dich haben, wo Du doch das schönste und sorgloseste Leben führen müsstest. Du bist doch wirklich dazu geboren, glücklich zu sein und Glück zu geben. Aber Deine Stellung zu Fred ist mir unverständlich. Schließlich habt Ihr Euch ja lange genug gezankt und wieder versöhnt, dass Ihr doch nicht so leicht voneinander lassen könnt. Er hat doch die Verpflichtung zu Dir, besonders in jetziger Zeit,
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