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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Notizbücher für die Jahre 1941, 1942, 1943, von denen ich nun erzählen möchte.
    Die »Mignon-Agenda« für das Jahr 1941 ist eine französische marque déposée und, wie der Name sagt, von winzigem Format. Der schützende Deckumschlag ist abgerissen, Wasser und Fett haben dem Büchlein schwer zugesetzt, doch es hat überlebt, in Mänteln und Jacken, Rucksäcken, tiefen Handtaschen und trotz täglichen Blätterns: »Ilse Winter, stud. phil., Basel, Hardstr. 63«.
    Alle Einträge sind mit Bleistift. Ich vermute, das Büchlein hatte eine weiche Lederummantelung mit einer kleinen seitlichen Schlaufe für den Stift. Solche Kalender sehe ich später beiIlse. Sie sind von Hermès. Alfred brachte sie jeweils zum Jahresende aus Frankreich mit. Millionen Französinnen planen auf den kleinen, delikaten Kalenderblättchen ihre Rendezvous, bei Ilse bleiben die dünnen Seiten in den Jahren unserer Gezeiten unbeschrieben.
    Nicht so 1941. Auf dem Blatt der wichtigen Geburtstage sind Fred Heim, Maria Netter, Hiroshi Kitamura – ihn lernen wir in diesem Jahr kennen – und Onkel Willi eingetragen, nicht aber Marie. Auf den hinteren Seiten die Lineatur für Adressen; Willi lebt nun in Charlieu, Dept. Loire, 11, Rue Jean Morel, Freund Oertl ist in die Rosentalstraße 27 umgezogen, und Marie muss sich einen Hausverwalter nehmen, da sie als Jüdin nicht mehr »geschäftsfähig« ist. Ilse notiert: Arthur Lieutenant, Prager Straße 20.
    Drei Reisen sind 1941 nachzublättern: an Pfingsten Tessin. Vom 1. bis zum 16.

August die lange Radwanderung durch die Bündner Rheintäler und der Jahreswechsel im Berner Oberland – mit Hiroshi, den sie in Anlehnung an die Kurtisane Murasaki Shikibu in ihren Einträgen liebevoll »Genji« nennt. (Genji Monogatari [japanisch:




, deutsch: Die Geschichte vom Prinzen Genji ] ist der erste psychologische Roman der japanischen Literaturgeschichte.)
    Vieles entblättert sich: Treffen mit Hilde Löwe, Theaterbesuche, eine Klee-Ausstellung in Bern, eine Operation in der Zürcher Klinik Hirslanden. Bücherwünsche von E.

S. (»bitte Dante, Opera omnia – Dünndruck in zwei Bänden«). Verabredungen in Genf mit dem George-Bewahrer Robert Boehringer in der Avenue de Beau-Séjour und am 28.

April um acht Uhr abends mit dem einflussreichen Nationalrat Albert Oeri, Chefredakteur der Basler Nachrichten und profilierter Kritiker der »Das-Boot-ist-voll-Politik«, im Gasthaus Schlüsselzunft . Geht es um Marie? Auch Namen ohne Schatten, Adressen ohne Berührung, Ausgaben für Skistöcke, Putzfrauen, Fotokopien, Bikarbonat,Strümpfe, dazwischen T.

R., Ilses »Buchführung« der Monatsblutungen.
    Am 31.

Mai trifft ein »mysteriöser« Besuch aus Berlin per Bahn über Ulm in Lörrach ein und steigt im Hotel Hebeleck ab. Am 24.

Oktober noch einer: Ankunft Artur Sommer steht da, der erste offene Vermerk für den Major der Wehrmacht und langjährigen Freund von Edgar Salin – er wird wichtig werden. Am 31.

Dezember ein Treffen mit Dr.

José de la Luz León, Gesandter Kubas in Bern. Das Büchlein von 1941 legt Fährten, ist die Ruhe vor dem Sturm.
    1942 ist in größerem Format. Schwarzer, stark verfleckter und welliger Ledereinband mit goldgeprägter Jahreszahl, ein Taschennotizkalender der Marke Tell. Auf der Umschlaginnenseite eine praktische Karte der Schweiz mit Telefonnetznummern. Ilse zieht in diesem Jahr wieder um. Hardstrasse 63 ist durchgestrichen und durch Augustinergasse 15 ersetzt. Bei den Geburtstagen ist Marie diesmal dabei, gefolgt von Ilses drei Männern: Heim, Salin, Hiroshi. Der Rest der Rubrik bleibt leer.
    1942 ist ein bewegtes Jahr für Ilse. Beinahe jeden Tag Einträge: Trennungen und Versöhnungen, tätliche Auseinandersetzungen, neue Freundschaften, Abschiede, Aussprachen und »Wiegenlieder«, oft Fremdenpolizei. Mehr noch: Landdienst auf dem Bauernhof der Familie Schmucki in Ernetschwil, bald darauf Trauer und Entsetzen, enge Frauenfreundschaften am Stapfelberg, Querelen um die Dissertation. Ferien und Affären: Pfingsten Ascona, Juli in Vitznau, danach mit Fred im Maderanertal. Im Oktober eine Radtour durch die Tessiner Täler, Silvester wieder mit Fred in St.

Moritz – viel Auf und Ab, alles mit bleichem Bleistift notiert.
    Auf den weißen Seiten des Kalenders:
    »Willi Eisenberg, Lyon Hôpital de l’Antiquaille, Salle Caillemer:
    ›Wenn nicht unter Kontrolle, telegrafieren Sie: naissance d’un garçon.
    Wenn unter Kontrolle: naissance

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