Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Dich zu heiraten und sich nicht bloß an Dir zu sonnen.
Nun beginnt ein neues Jahr, das uns allen Frieden und Glück und Zufriedenheit und ein Wiedersehen mit Euch allen Geliebten bringen möge! Ich küsse Euch alle – Dich, mein Liebes, ganz besonders –
Deine Putz
Ilse sitzt im Spinnennetz ihrer Familie fest. Alle Fäden zittern im Luftzug der Zeiten. Selbst Briefe und Karten, die nicht in den Schuhkartons überdauern konnten, haben spürbar überlebt. Sie sind die kleinen Zehen der großen Amputation, sie zucken und jucken: Tante Rosel im Vorhof der Hölle, Henny weiß Gott wo, aber immer laut und fordernd, der gescheite Gasbarra im gestärkten Hemd des Fascio, Mehring auf der Flucht in die Karibik, das ganze versprengte Personal, die Pozners und Silbermanns, die Cahns und Klagemanns – von Portbou bis Amsterdam. Die Mundtoten des Dr.
Rothmund, die lauten und die leisen. Und Marie, immer wieder Marie; Postkarten mit Rückantwortschein, Briefe, Päckchen, Pakete, Speditionen. Fotoalben, Lüsterteile, Weißwäsche, Taschenwärmer, Muffe, Capes, Fischbesteck, Krebszangen. Bestverpackte Lieferungen, handverlesen und für immer verschickt – sie lässt nichts zugrunde gehen, selbst wenn sie sich beim Knüpfen der Packschnur blutige Finger reißt. Am Postamt Bayerischer Platz gehört die stets adrett gekleidete Dame mit dem Gehstöckchen zum Bestand. Manch ein Beamter wird auch verschämt zur Seite schauen, wenn Marie im September 1941 mit dem frisch aufgenähten gelben Stern ihre Post in die Schweiz zum Schalter reicht.
Bis ganz zum Ende spinnt Marie beharrlich den Faden, knüpft ihr festes Netz in Ilses Haus, umgarnt ihre Sinne und windet sich nachts in ihre Träume. Ihr Webmuster aus Tränen und Küssen, aus Drängen und Schmeichelei, aus Leid und Einsamkeit ist delikat. Jahrelang schießt sie ihr Schiffchen durch die Kettfäden von Ilses Gefühlen. Beharrlich webt sich die Mutter noch einmal in Ilse ein, wo sie doch schon abgestoßen war. Dochdie Einsamkeit und die unmittelbare Bedrängnis verschaffen ihr unverhofft diese zweite Chance.
Sie schöpft sich stark und spinnt den Kokon ihrer Muttermacht in den Gewissensnöten der Tochter. Marie wird durch alle Fegefeuer gehen, um den Triumph ihrer Rückkehr in Ilses Leben – und sei es nur für einen Tag – auszukosten.
Berlin, den 4.
Dezember 1940
Mein Geliebtes,
Deinen lieben Brief habe ich heute Morgen erhalten, die Zeilen haben mir gutgetan, und ich danke Dir für die Herzlichkeit und Liebe, die Du mir darin versicherst. Ich weiß leider auch zu gut, dass Deine heutige Einstellung mir gegenüber viel früher hätte so sein müssen, es lag an all dem, was mit Dir und um Dich lebte. Klug genug warst Du, immer zu beurteilen, dass die Mutter das Teuerste und Opferbereiteste ist. Du warst störrisch und ungerecht mir gegenüber, und viel Leid wäre mir erspart geblieben, wenn Du sensibler geartet wärst. Nun, vielleicht ist es noch nicht zu spät für uns beide, ich bescheide mich vorläufig mit der Hoffnung und bin glücklich, dass ich ein gutes Kind besitze, das mir gesund und glücklich sein möge. Vati und ich sind ja immer so stolz und glücklich auf Deinen so schwer errungenen Besitz gewesen. Ihm war es leider nicht vergönnt, Dich als weisen Menschen heranwachsen zu sehen, umso mehr klammere ich mich förmlich an Dich in meiner Einsamkeit und suggeriere mir immer von Neuem, dass ein Wesen für mich auf der Welt ist, das zu mir gehört und für mich da ist.
Und zehn Tage später:
Liebste Ille,
als ich gestern von Marta Baums Geburtstag heimkam, fand ich Deine liebe Karte, vom Samstag geschrieben, als Fredi bei Dir war, vor. Du avisierst mir einen Brief, vor dem ich offen gestanden schon vorher Angst habe, denn die angeführte müde Resignation und Herzbeklemmungen lassen ahnen, dass ich Grund dazu habe. Ja, mein liebes Kind, wenn Du nicht aus Deiner unglücklichen Haut heraus kannst und weiter Dich an Dinge klammerst, die auf dem Mond liegen, wird Dein periodischer Weltschmerz Dich immer plagen, und niemals wirst Du froh werden, wenn Du auch manchmal so tust, als seiest Du es. Wer oder was soll Dein Glücklichmacher wohl werden? Mir scheint, der Wahn mit Edgar besteht noch? Einseitig natürlich. Ja, ich kann Dir leider nicht helfen, da ich nicht imstande bin, Deine Psyche zu heilen, dafür gibt es Ärzte. Was kann ich von hier aus wissen, was in Dir und mit Dir vorgeht, ein Unglück für mich, mehr weiß ich nicht. Da sitzt Du und
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