Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
auch, ihr unruhiges Gewissen zu betäuben.
Illemusch, nun ist es aber wirklich genug! Ich habe schon keinen Platz mehr, könnte mir einen Milch- und Käseladen aufmachen. Puppchen, jetzt kam das in der Bally-Schachtel, die sicher aus Deinem letzten Schuheinkauf, 26,50 Fr. steht drauf, herrührt. Die Wurst freute mich am meisten, also ich danke Dir tausendmal und bitte Dich, Schluss zu machen.
Großvater Chaskel hat Geburtstag, »seine süße Mieze« treibt eine Flasche Portwein auf. Es wird klamm in Maries Kellerzimmern, »eine Hundekälte mit Regengüssen«, sie schläft nun in Jacken und wollenen Schlüpfern. Tagsüber räumt Marie auf und schickt einen Kleiderkoffer, noch mehr Teppiche und ein Heizgerät nach Basel ab. Ilse hat Geburtstag, sie wird achtundzwanzig. Täglich ist Hochbetrieb bei der »Familie«, immer neue »Beunruhigungen« und viele auf Wohnungssuche. Ilse und Maria Netter unternehmen im Herbst eine Radtour im Tessin, wo Vater Netter in der Casa Olinda in Locarno Monti sein Domizil hatund es sich nicht nehmen lässt, die beiden jungen Frauen nobel auszuführen.
Ach, zufrieden bin ich überhaupt mit jedem Tag, der mir noch so beschieden ist, wie er ist, und sehe ihn als ein Geschenk vom Himmel an. Jeden Morgen betrachte ich es als eine Gnade, noch in meinem schönen Bett geschlafen zu haben, und bin dankbar für alles wie nie in meinem ganzen Leben, weil man nichts anderes tut und denkt, als Vergleiche zu ziehen: Mit jedem, den man spricht, gibt es nur das eine Thema: Was soll werden und wie wird unser Schicksal gelöst und gehandhabt werden? Puppchen, ich freue mich Deinetwegen sehr, dass Dein persönliches Leben, gottlob und toi, toi, toi!, immer wieder, wie man sagt, auf die Speckseite fällt, denn mit hin und wieder einigen kleinen Mankos klärt sich die Sonne doch stets schnell bei Dir auf.
Nach Shanghai müssen die Menschen jetzt auf dem Landweg über Russland reisen, 14 Tage Bahnfahrt, und sie machen es, wenn auch nicht mit Wonne, aber sie hoffen, sich zu verbessern! Vielleicht werde ich es eines Tages bereuen, es nicht gemacht zu haben. Aber ich hatte mir ja vorgenommen, nicht bis eines Tages zu denken, sondern an Wunder zu glauben.
Jüdisches Neujahr 5701 und Versöhnungstag, Marie hadert: »Wer Glauben hat, hat Bestimmung, und der kann man nicht entrinnen. Ich Arme, was muss ich gesündigt haben. Mein Gott, warum muss ich dafür so alt werden?« Maries Wartenummer ist die 12
900. Im November 1940 wird die 3600 aufgerufen. Mittlerweile hat die US-Regierung auch die Zulassungszahl mit dem Argument halbiert, die Nazis schleusten Geheimagenten in den Flüchtlingsstrom.
WINTERSEMESTER 1940/41
Vom Früh- zum Spätkapitalismus: SALIN
Seminar zur Standorts-Theorie: SALIN
Deutsche Klassik: MUSCHG
Moderne Dichtung: MUSCHG
Seminar, Grimmelshausen: MUSCHG
Am 21.
November 1940 stirbt der »Patriarch« Chaskel Eisenberg: »Er ist sanft und ruhig eingeschlafen – ich betrachte es als eine Erlösung. Am Sonntag, mittags um 3
Uhr, geleite ich meinen geliebten Vater zur letzten Stätte neben Großmutti.«
Im September 2004 gehe ich mit meinen Kindern David und Valerie das Grab von Chaskel und Rifka auf dem weiten Friedhof in Berlin-Weißensee suchen. Wir haben uns vorbereitet, das muss auch sein, denn ohne Lageplan und Nummer des Grabes ist hier unter dem Dickicht und den von Moos und Bodendeckern überwucherten Steinen nichts zu finden, nichts zu lesen, kaum etwas zu ahnen. Unser Ziel: Feld L, Abt.
V, Reihe 13. David schultert eine kleine Harke, und Valerie trägt zwei Töpfe mit Sonnenblumen. Wir sind eine kleine Expedition in die Vergangenheit, auch macht der Ort es leicht, die Gegenwart schnell zu vergessen – so weit, so verzaubert, so still. Natürlich verlaufen wir uns trotz Plan immer wieder, kommen vorbei an Monumenten und Soldatengräbern, verharren vor Platten aus Gusseisen und umgestürzten Tafeln, bücken uns hinab zu Kindergräbern und reden wenig. Der jüdische Friedhof, so stumm er ist, so viel erzählt er ungefragt.
Nach einer kleinen Ewigkeit kommen wir an – nicht bei einem Grab, bei einer ausladenden Brombeerhecke, die weit wuchert und wild um sich rankt. Hier also soll es sein, hier also hat Marie am 24.
November 1940 nachmittags um drei Uhr im fahlen Berliner Herbstlicht gestanden. David beginnt, mit seiner Harke eine Schneise in das Dickicht zu schlagen. Schnell wird der schiefe Stein von Rifka, geborene Josephson, sichtbar. Sie liegt seit dem
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