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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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verschlingst in Massen die Wissenschaft in gedruckter Form, bis Du bald selbst nicht mehr weißt, wohin damit? Und was einmal damit anzufangen? Und wann kann man damit einen Groschen verdienen? Meines Erachtens ist das doch die Hauptsache. Jeder Mensch, selbst die Ältesten, streben heute danach, durch Arbeit sich zu ernähren. Philosophen kehren heute die Straßen und sind Müllkutscher etc. Aber das müsstest Du ja eigentlich selbst wissen.
    Sind die Jean Pauls da?

    1000 Küsse, Deine Mutti
    Und zum Jahresende:

    Immerhin sage ich wieder, nur nicht schlimmer. Und der Allmächtige schützt uns weiter. Diese Zeilen werden Dir ja hoffentlich nach Arosa gesandt werden, Deine Adresse weiß ich von dort nicht. Du wirst beim Empfang schon ins neue Jahr hineingefeiert haben, ich wünschte, Du wärst im Innern deines Herzens frei und froh dabei, und ich wünschte in diesen Gedanken, dass es für die Zukunft nur so immer sein möge und dass Du nach Hause zurückkehrst, gestärkt und erfrischt nicht nur körperlich an Sonne, sondern noch mehr an Gesundung Deiner Seele. Du schreibst mir von Deinen vielen schönen Einkäufen vor dem Fest in Zürich, und ich freute mich natürlich ebenso wie Du, damit wirst Du sicher 1a ausgestattet und hübsch auf der Reise Eindruck schinden; auch kann ich mir denken, dass das herrliche, schwere, grün gewesene Kleid jetzt in Schwarz sehr [fesch] und kleidsam ist und chic mit dem farbigen Chiffon. Und ist das neue Wollkleid hübsch geworden? Wie ist es gemacht? Hat Fredi Dir Skier mitgebracht? Ja, mein Gutes, ich weiß, dass es Dir äußerlich noch unverschämt gut geht, gottlob! Und wenn das nicht wäre, hättest Du auch keinen Sinn und keine Zeit für Deine anderen Zores, und diese würden nicht solch Ausmaß angenommen haben. Arme Teufel, die im ständigen Kampf um ein Stück Brot, können sich den Luxus respektive den Kummer, den Du Dir mit Gewalt aufgeladen hast, gar nicht leisten! Schon von dieser Seite mal Dein Dasein betrachtet, wirst Du mir recht geben müssen und wirklich endlich Deinem Vorsatz treu bleiben, all den seelischen Ballast für immer abzuwerfen. Energie, mein liebes Kind, ist ein Wort, das Du mir immer anwendest bei Dir, wenn es Dich nicht viel Überwindung und Ungelegenheiten kostet.
    Aber diesmal wird es Dir nicht leicht, doch umso entscheidender, wenn auch schwer sein. Na, wollen sehen, was das neue Jahr uns bringt, eine Portion Widerwärtigkeiten hat man ja bisher gehabt, und eigentlich könnte das Maß voll sein.

    Herzliche Grüße an Fredi.
Sei fest geknutscht von Deiner Mutti
    Im Dezember 1940 verschickt die Eidgenössische Fremdenpolizei einen »Fragebogen für Emigranten«. Alles wird erkundet: Personalien, Aufenthalt, Existenzmittel, Gesundheit, Sprachen und natürlich auch – Auswanderung: »Aus welchen Gründen haben Sie Ihren früheren Wohnstaat verlassen?«
    Ilse macht es kurz und knapp, ganz sie selbst: »Aus Überzeugung!« So ist sie, trotz all ihrer Meschuggas: Schnauze, ehrlich und loyal!
    Was bewegt Ilse dazu, ihre Basler Jahre aufzuheben – nicht zu Altpapier zu machen? Warum hebt sie auf, worüber sie nicht sprechen kann, warum erhält sie, was sie am Weiterleben hindern muss? Dass sie diese sieben Jahre nicht in ihrem Lebenhalten kann, nie mehr nach Basel fährt, nichts von dieser Stadt erzählt, kann ich verstehen, aber nicht in der Härte der Verbannung.
    Die Arbeit des Bewahrens überlässt sie den Zetteln, den Briefen, den Kuverts und indiskreten Notizen. So »kurzerhand« sie mit vielem ist, so will sie auch diese drei Kilogramm Papier für immer wegschaffen, doch sie kann nicht, das Paket ist zu schwer, zu gut von Maries unfertigem Leben bewacht. Ihre Handschrift auf Hunderten von Seidenpapieren wacht in den Schuhkartons. Marie hat über den Tod hinaus Gewalt – wie im Leben, so lässt sie auch danach nie locker. Ich sehe sie auf ihren Briefen und Postkarten thronen, wie sie mit dem Gehstock rüstig die im Dunkel auf Papier versammelten Akteure auf Trab hält. Sie schlägt den Takt, und alle jagen ihrem Los hinterher. Marie mit ihren Verbündeten und ihren Feinden, ihren Mühen und ihren Freuden. So ist ihr Briefberg Testament, unantastbar, für Ilse unberührbar. Marie hat alles darangesetzt, um in ihrem Nachlass gefunden zu werden – Punktum!
    Nie wieder wirft meine Mutter einen Blick in diese Schuhkartons aus dem Jahr 1943 – die mit ihr von Basel nach Zürich umgezogen sind. So bleibt alles beisammen, auch ihre drei kleinen

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