Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
genug, also dass es sofort geschehen muss.
Worauf soll ich denn hier noch warten? Deine an mich gerichteten Briefe sind stilistisch wunderschön, zeigen mir aber doch, dass ich damit nicht weiterkomme. Papier ist geduldig, aber auch nicht mehr, und wenn ich mich [aufmache], einen Weg zu suchen, ein bescheidenes Plätzchen Ruhe zu finden; [besser, sich ein] großes Ziel zu stecken und zu handeln, als andauernd hin und her zu quasseln vom Schicksal und Staunen und Wundern! Hier noch länger herumzusitzen habe ich reichlich satt, und wenn mir keiner helfen will, werde ich mich fremden Leuten anschließen, um auf diese Weise fortzukommen. Du siehst, mein liebes Kind, ich bin heute mal wieder voll von guten Eindrücken. Grund genug hat man, weiß Gott!
Hoffentlich bist Du gesund, und ich habe morgen früh Post von Dir, bevor ich hiermit fortgehe, den Brief abzugeben. Eine wahnsinnige Kälte bei uns, vorläufig aber in der Wohnung noch warm. Beherzige all meine Punkte und handle danach.
Mit 1000 herzlichsten Küssen, Deine Mutti
Puppchen, auch heute leider keine Nachricht von Dir. Hast Du es schön warm in Deiner Wohnung?
Und weil sie ihrer Tochter nicht nur in der Liebe, sondern auch in vielen anderen praktischen Dingen nicht viel zutraut, lässt Marie nicht nach, gute Sachen zur Post zu bringen. Ich traue meinen Augen nicht, im Januar 1941 schleppt sie sogar eine Heizsonne zur Post:
Puppchen, ich schickte Dir vorhin 2 Warenproben ab. Es ist zusammen ein elektrisches Öfchen, ich habe es auseinandermontiert, weil das Gewicht zu viel war. Die Füße sind im kleinen Päckchen und werden an die runde Röhre angeschraubt; lass Dir das von einem Studenten machen. Das Öfchen heizt wunderbar und sparsam und [ist] schön vor die Beine zu stellen für Deine kalten Füße. Ehe Du die Heizsonne hin kriegst, ist vielleicht der Winter vorbei, es dauert ja alles so ewig mit anderen Sendungen. Ach, hoffentlich erhältst Du die Päckchen ohne Umstände. Um die Muttern unter den Schrauben zu befestigen, muss man von der Röhre das Seitenteil abschrauben, um dadurch immer hineinzugelangen, ganz einfach für mich gewesen.
In Berlin beginnt das Jahr 1941 mit einem klirrend kalten Januar. So auch in Basel im zugigen Haus zum Fälkli. Marianne von Heereman schreibt auf:
»Bald zeigte sich, dass der rationierte Heizstoff das Fälkli nicht erwärmen konnte. So begann ein täglicher Rundgang von der schwach geheizten Universitätsbibliothek durch die Seminare zu einer elektrischen Sonne bei unserer guten Fee, der ›Marchesina‹ am Byfangweg. Die Nacht verbrachten wir auf dem Stapfelberg, wo das Wasser in den Zimmern fror und die Blätter eines schönen Weihnachtssterns (Poinsettia) vor Kälte gleich starben. Über solchem Missbefinden durfte aber keine Zeit verloren werden. Was tun in der winterlichen Starre? Am besten an etwas recht Langweiliges und Ärgerliches gehen, spottete Renata, vielleicht an die Entlarvung des ›Arier-Unfugs‹, wie sie Hitlers These nannte, bei der alles Schöpferische bei den Griechen aus ›arischem‹ Blut gekommen sei.«
Dem Besucher muss der Eintritt in Renatas Stube wie eine Zeitreise in die Antike vorkommen. Als wolle sie diesen Eindruck verfestigen, gibt die Frau Doktor im Fragebogen für Emigranten in der Rubrik »Welche Sprachen beherrschen Sie« an: Alt-Griechisch und Latein.
»Jeder Tag zerbrach letzte schwache Hoffnungen, aber Renata hörte nie auf, Ermutigung zu spenden: ›Nur den Traum von ehemals nicht begraben!‹ Doch jeder militärische Sieg Hitlers bedeutete auch nach innen einen Sieg über weitere noch im Nationalsozialismus widerstehende Deutsche. Die ›Symmachoi‹ [von symmachia , griechisch für: Kampfgenossenschaft] – wie wir die treuesten unter den in Deutschland verbliebenen Freunden nannten –, die noch in voller Unbedingtheit dagegen standen; es ist hiermit nicht nur politisch aktive Gegnerschaft gemeint, sondern die seelische Haltung, die aus unverbrüchlicher Treue ohne Feigheit und Trägheit des Herzens zu ihrer ursprünglichen sittlichen Überzeugung steht. Die spätere Entschuldigung der vielen hieß: Man habe nicht gewusst, was vorging.
Die Unseren wussten es, weil sie es wissen wollten. Für die Korrespondenz, die die Zensur passieren musste, hatte sich eine Codesprache herausgebildet, in der sie uns schließlich fast alles mitteilen konnten: Nachrichten über Massenerschießungen im Osten, Geiselerschießungen in Frankreich, über disziplinäre Grausamkeiten
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