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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Geschwätz, Neid und dem ganzen Hin und Her traut schon lange niemand mehr seinem Nachbarn, und die noch verbliebenen jüdischen Bewohner wagen sich nach acht Jahren Diffamierung und Terror kaum mehr vor die Wohnungstür. Doch es wird noch schwerer. Ab 1941 werden die Berliner Juden rabiat aus ihrenWohnungen vertrieben und in sogenannte Judenhäuser gepfercht. Maries Haus scheint nun, wo »Tausende eine neue Bleibe suchen«, wie eine kleine Oase. Das Haus ist voll, die Bewohner kennen sich, denn sie wohnen zum Teil schon seit Jahren miteinander, wenn auch eng, so aber doch vertraut.
    Im Frühjahr 1941 sind das:
    In der kleinen Wohnung unter dem Dach Maries langjähriger Mieter und neuerdings auch Kostgänger, der »kurze Baron« Karl von Kaskel. »Der Alte isst seit einer Woche täglich Mittag bei mir, weil er nicht mehr ins Restaurant gehen darf; er hat aber Aussicht, durch eine Eingabe seiner gewesenen Mischehe andere Lebensmittelkarten [ohne J] zu erhalten«, was auch Maries Speisezettel wieder abwechslungsreicher macht. Der Baron wird als einziger Bewohner der Landhausstraße in seiner Wohnung eines natürlichen Todes sterben.
    In der Vierzimmerwohnung auf der ersten Etage lebt das betagte Ehepaar Paul und Antonie Salomon mit ihrer pommerschen »Stütze« Luise. Antonie, genannt Tosi, wird sich nach dem Tod ihres Gatten am 10.

August 1942 im Alter von einundachtzig Jahren in dieser Wohnung das Leben nehmen. Marie erwähnt die Salomons in ihrem Brief vom 13.

März:

    Bei mir ist Krieg, und man weiß daher nie, was morgen sein kann. Während ich jetzt abends neun Uhr dies schreibe, ist noch nichts los, aber es kann noch kommen, wie vergangene Nacht mal wieder nach langer Pause. Mein Gottvertrauen stärkt mich dabei, denn so ganz allein hier unten im Keller […] ist weiß Gott kein Honiglecken! Draußen tageshell, saß ich am Fenster und betrachtete den Himmel im Hochbetrieb […]
    Gegen Mitternacht kam Luise, die alte Stütze, von oben hinunter, nach mir zu sehen, berichtete, dass ihre alten Leutchen nichts hörten und feste schliefen. Ach Gott, er ist 90 und seine Frau 80 Jahre. Dass er dabei aber prachtvoll in geistiger und körperlicher Verfassung ist, habe ich Dir gelegentlich geschrieben. Die Frau musiziert noch manchmal vierhändig mit einer Dame, die zu ihr kommt, und liest alle nur denkbaren Bücher in der Bibliothek. Während er noch allerhand neugierig ist, was kommt, kränkt sie sich täglich, dass sie noch leben muss.
    Im ehemaligen Wohn- und Esszimmer hat sich Kaufmann Emil Wolf mit seiner Tochter Ingeborg eingemietet. Ihm gelingt es, zusammen mit seiner Zwölfjährigen am 17.

Juli 1941 Deutschland mit einem Visum für die USA zu verlassen. Der Anblick des reisefertigen Vaters muss Marie sehr verbittert haben. Sie schreibt am 15.

Juli:

    Du willst mich hinhalten und glauben machen, was ich ersehne und woran Du absolut nicht denkst, darum werde ich wohl oder übel hier das Opfer werden müssen für meine ganze Familie, die sich zur rechten Zeit aus dem Staube gemacht hat. Aber ich muss es nicht besser verdient haben, sage ich mir. Ich könnte noch stundenlang in diesem Stil fortfahren. Denn die Verzweiflung kennt keine Grenzen. Wem nütze ich damit, oder wem schade ich? Nicht einmal mir selbst; mir steht keiner bei, wenn ich in Not bin, das ist eine bittere Pille. Gott gebe, dass Du es mal besser hast, wenn Du 62 Jahre alt bist oder wenn Du allein sein wirst, ohne Familie, wie ich jetzt.
    Eine Mansardenkammer bezieht der vierzigjährige »Schachspieler« Martin Löwy. Er kann nur ein halbes Jahr bleiben. Am 25.

Januar 1942 wird er mit dem 10.

Berliner Transport nach Riga verschleppt. Auch an ihn erinnert ein Brief von Marie:

    Berlin, den 23.

Juli 1941
    Liebste Ille,

    seit dem 1.

Juli wohnt oben in der Mansardenstube ein neuer Herr (ein sehr netter, feiner Mensch, 40 Jahre, Vetter von Fritz Struck, hat auch Ähnlichkeit mit ihm). Dieser Junge ist als Hausgenosse gelegentlich bekannt geworden mit meinem Alten, wobei auf das Schachspiel die Rede kam und Löwy, so heißt der neue Mieter, erzählte, dass er einen bekannten Herrn hat, der auch Schach spielt und den er dem Baron mal schicken wird. Letzterer ödet sich nämlich vor Langeweile zu Tode, tut nichts weiter als Zeitung lesen, die er mit einer beinahe perversen Gier begrüßt, bestimmte Berichte verschlingt, sie mir dann noch angestrichen herunterbringt und mich manchmal derartig anwidert, dass ich es mir verbeten

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