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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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mir es möglich macht, muss es trotzdem ergriffen werden, es ist dies die Ansicht aller meiner noch vorhandenen Familienmitglieder, die hier um ihr Schicksal zittern und bangen.
    Sowie ich Kabelbescheid habe im zusagenden Sinne, muss schnell all das Persönliche verkauft werden, was heute, bei der Knappheit an allem, ja nicht schwer ist, aber wiederum sehr schade, sich von so vielem trennen zu müssen, was niemals mehr ersetzbar ist, wenn es mal gebraucht wird.
    Hat die Uni schon begonnen? Wann werde ich von Dir erfahren, ob Du bald ins Examen steigst? Sind eigentlich die Kinder von Salin bei ihm, und was machen sie? Und die Frau, die einmal Todeskandidatin war? Hat er noch solche finanziellen Sorgen mit seinem Gut? Und wertet er es jetzt günstiger aus? Ich glaube auch, dass er Dir betreffs zukünftiger Existenz große Rosinen einredet. Inwiefern ist er denn so aufmerksam zu Dir? Ich bin neugierig, wie sich die Korrespondenz mit Hiro weiter gestaltet. Ich glaube ja nicht , dass es zu mehr als zu einer herzlichen Freundschaft führen wird, so wenigstens habe ich den Eindruck durch den Brief. Weiß Gas denn von ihm resp. wie steht er so mit Gas?
    Adieu Puppchen, hoffentlich höre ich bald von Dir & schließe mit herzhaften Küssen.

    Wie immer Deine Mutti
    Ilses Notizbüchlein erzählt wenig von September und Oktober 1941. Ein besonderes Ereignis steht am Freitag, den 24.

Oktober 1941 eingetragen: die Ankunft von A.

S. in Basel. Marie ist stets gut informiert, sie kündigt den Besuch in ihrem Brief vom 21.

Oktober an: »Vielleicht weiß Edgars Päckchen-Freund [Sommer] mich zu erfreuen, versuche mal.« Artur Sommer hat sich bestimmt mit seinem Freund und Doktorvater Edgar Salin verabredet und auch mit Edith Landmann und Renata von Scheliha gesprochen. Diese vier bilden einen vertrauten Kreis. Sie sprechen offen darüber, wo Freund und wo Feind ist, wer Verrat begeht und wer sich treu bleibt.
    Artur Sommer versteht es, seine verdeckten Kurierdienste und »Freundestreffen« geschickt und umsichtig zu tarnen. In der Schweiz mag ihm das relativ leicht fallen, doch in Berlin erfordert dies Mut. Warum setzt er sich diesen Gefahren aus? Sommer ist kein Nazi-Gegner der ersten Stunde. Im Frühjahr 1933 kann er dem NS-Regime durchaus positive Seiten abgewinnen, mit einer Einschränkung: »Ich war am Rhein, in Gießen, Marburg, Berlin und Kiel und bin nun über Deutschland unterrichtet. Die Politik gefällt mir bis auf den Rassenpunkt, den ich natürlich nicht schätze.« Sommer, Jahrgang 1889, steht 1933 an der Schwelle seiner akademischen Karriere: Der Sohn eines Postschaffners erwartet die Berufung als Professor für Nationalökonomie an der Universität Gießen. Noch im selben Jahr muss er erleben, wie die Studentenschaft in die SA strömt. Angewidert schreibt er an Edgar Salin:

    Die Politik beherrscht Leib und Leben; zu jeder Veranstaltung sind die tausend Teilnehmer vorausbestimmt. Vom Bäcker bis zur Universität tritt man geschlossen an. Die Volksgemeinschaft ist nun die SA […], Proleten befehlen Professoren, Rechtsanwälten u.

Ä. Einige Lastwagenlenker grinsen, wenn jedes zweite Kommando militärisch falsch ist. Nur ehemalige Gefreite oder weniger können überhaupt nach den Sternchen gelüsten.
    Der Brief wird abgefangen und Sommer in das KZ Osthofen bei Mainz eingeliefert, wo er viele Oppositionelle kennenlernt. Nach fünf Monaten kommt er frei, doch im NS-Staat wird er keine Universitätskarriere mehr machen können. Auf Empfehlung von Freunden findet der arbeitslose Akademiker und Leutnant der Reserve im Sommer 1938 seine »Lebensstellung« bei der Wehrmacht. Er kommt schnell voran, denn unter seinem obersten Chef, General Thomas, spielt der KZ-Eintrag in seiner Personalakte keine Rolle. Was er aber seit dem Überfall auf Polen von den Verbrechen der Wehrmacht erfährt, quält ihn.
    Seinen in der Schweiz lebenden Freunden berichtet er von den »Ereignissen« im Osten und dem nun einsetzenden »Abtransport« der deutschen Juden nach Łódź, Minsk, Kowno und Riga. Und wieder macht das Wort »Endlösung« die Runde. Schlimmste Befürchtungen bestätigen sich, die Sorge um die noch in Berlin verbliebenen jüdischen Freunde wird unerträglich – insbesondere um die furchtlose Gertrud Kantorowicz, deren Leben nun im Angesicht von Judenstern und Deportation unmittelbar bedroht ist. Die Freunde beraten die Möglichkeiten einer Rettung, für eine geregelte Auswanderung indes ist die Zeit abgelaufen.

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