Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Gemeinsam entwickeln und verwerfen sie nun Pläne, nennen einander Namen von mutigen Reisebegleiterinnen für die betagte Freundin, überlegen, wer Papiere besorgen kann, wer an den Etappen bis zur Schweizer Grenze Unterkunft gewähren könnte. Ist Gertrud Kantorowicz erst einmal in »Freundesland«, kann geholfen werden. Alle wissen: Die Zeit drängt!
Fünf Tage später kommt Major Sommer noch einmal durch Basel. Vermutlich hat er seine Dienstreise als Referent für die Wirtschaftsbeziehungen zur Schweiz beendet und ist nun auf der Rückreise nach Berlin. Er trifft sich mit Ilse, die ihn bittet, einen Umschlag mit Dokumenten für die Mutter mitzunehmen. Schon einmal, im Juni, hatte Sommer durch Vermittlung von Bruno Bendix ein Kuvert von Marie für Ilse mitgebracht, Dokumente, die den Dreiviertel-Erbanteil Ilses ausweisen und helfen sollen, das Haus vor der Enteignung zu schützen. Artur Sommer verspricht Ilse an diesem Oktobertag, Marie in Berlin zu treffen.
Im Herbst 1941 gehört Ilse zum engeren Kreis der »Stapfelmäuse«. Im Fälkli wissen alle um Maries Schicksal und beziehen sie in Gedanken mit ein: Wenn anderen geholfen werden kann, dann nach Möglichkeit auch ihr. Was aber, wenn Maries Uhr »abläuft«, bevor die Reisepläne für die Freundin so weit sind, dass es losgehen kann? Wird das vor Ende des Jahres noch zu schaffen sein? Kann Marie trotz ihrer Behinderung mitgenommen werden? Wer besorgt die Papiere für Marie Sara Winter? Was kann Bendix leisten? Über das und mehr wird Ilse an diesem Herbstnachmittag mit Artur Sommer während eines ausgedehnten Spaziergangs am Rheinufer sprechen, ihn wohl auch drängend, denn von Marie kommt nun täglich ein Brief:
Berlin, den 21.
Oktober 1941
Ach, es ist zu schrecklich, die kostbare Zeit vergeht, und nichts geschieht, was einen vorwärtsbringt, im Gegenteil, immer schwerer wird alles, und man darf doch nicht müde werden, wenn man leben will. Ich kaue am Federhalter, als wenn ich nicht wüsste, was zu schreiben, und dabei ist mein Herz voll bis oben hin und kann nichts aufs Papier bringen, aber Du wirst meine Gefühle ungeschrieben erraten und begreifen, um was es geht, als ich Dich beizeiten belästigte. Trotzdem hoffe ich weiter, solange ich noch Grund dazu habe.
WINTERSEMESTER 1941/42
Katholische Ethik und Kapitalismus: SALIN
Dichtung und Reformation: WALTER MUSCHG
Ihr Kopf kann kaum noch bei der Sache sein: Mutter, Hiroshi, Salin; Fred ist in Zürich »abgetaucht« – und als ob das noch nicht genug wäre, kommt am 23.
Oktober Besuch von der Fremdenpolizei. Schläfli, nun zum Detektiv Korporal befördert, gibt zu Protokoll:
Petentin teilt mit, in ihren Verhältnissen habe sich nichts geändert. Sie erhalte von Herrn Heim in Zürich nach wie vor ihr Geld, nur bekomme sie jetzt monatlich Fr.
450.–. Zur Last fallen tue sie niemandem.
Wir ersuchen, bei der Universität festzustellen, wie lange das Studium der oben genannten Winter, Ilse, noch dauern soll. Ferner bitten wir, die gegenwärtigen Verhältnisse der Winter abzuklären.
Herr Bolli, Sekretär der Universität, erklärt, wenn alles ordnungsgemäß vor sich gehe, dürfte die Winterihr Studium mit Abschluss des Semesters am 7.
März 1942 beendet haben. Er glaube, dass ein Aufenthalt bis zum 15.
März für diese genügen werde, um alles zu regeln.
Galgenfrist. Ilse berät sich mit Oertl. Natürlich darf die Dissertation nicht im Wintersemester fertig werden – an Einfallsreichtum fehlt es nicht. Der Kandidatin wird es nicht schwergefallen sein, den Fleiß etwas zu bremsen. Schwieriger wird es für Ilse, den schon seit Monaten verstockten Fred »bei Laune« zu halten.
In der Regel kann die Fremdenpolizei so lange hingehalten werden, als dass die finanzielle Grundlage gesichert ist. Nichts wird schärfer geahndet als unerlaubter Erwerb und »ungesicherte Verhältnisse«. Möglich, dass Salin seinen Kollegen Fritz Mangold, Mitherausgeber der Staatswissenschaftlichen Studien , um stillschweigendes Einverständnis gebeten hat, denn andere Professoren tuscheln schon längst über das Fräulein Winter. Ihre Bemühungen um die Promotion – trotz fehlenden Abiturs – kommentieren die Herren mit böser Zunge. Zu offensichtlich ist das anhaltende Interesse des vir spectabile Salin an der jungen Frau.
Ab Oktober 1941 zieht sich die Schlinge um die noch in Deutschland verbliebenen Juden zu. Es werden keine Reisepässe mehr ausgegeben, womit die Auswanderung praktisch unmöglich
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