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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Misch trifft Marie im Mark. Vieles hat sie ertragen, vieles kann sie mit Lebensmut und starker Haltung überwinden. Doch der Anblick der entleerten Wohnung, in der sie ein halbes Leben lang ein- und ausgegangen ist, mit Erinnerungen an Geburtstage, gemeinsame Pessachtafeln und an Kaffeekränzchen bis zuletzt, verschlägt Marie den Atem. Die Realität der »Höllenfahrt«, wie sie es nennt, dringt in ihr Leben ein. Seit siebzehn Jahren ist sie nun schon auf sich selbst gestellt und hat sich in allen Lebenslagen einen Weg geschaffen, sie weiß sich durchzusetzen. Trotz Judenhetze und Drangsal konnte sie sich ein kleines Nest aus Päckchenschokolade und klug gesponnenem Garn herrichten – jetzt nicht mehr!
    An diesem 29.

Oktober begreift sie schlagartig, dass ihr Name auf einer unabänderlichen Liste steht, es keine Ausreden mehr gibt, keine Worte mehr, um sich das Leben noch einmal schönzureden. Dass auch ältere Familienmitglieder Koffer packen müssen, erlebt Marie jetzt hautnah. Julius ist siebenundsechzig, und somit ist auch sie nicht geschützt. Wer sonst noch abreist, spricht sich in der »Familie« schnell herum. Alle kennen sich und sind entsetzt. Auch in der Landhausstraße wissen alle Bescheid. Sie schweigen und versuchen sich zu ducken.
    Ende Oktober verspricht Ilse, »alles Erdenkliche« zu tun. Danach bleibt Marie eine Woche lang ohne Nachrichten. Sie ist der Verzweiflung nahe und lebt nur noch in ihren Briefen an Ilse. Da meldet sich Chicago.

    Berlin, den 5.

November 1941
    Mein Geliebtes,

    es ist morgens neun Uhr, und die Post ist vorbei ohne etwas von Dir, worauf ich so fieberhaft warte! Es sind ein Brief und sechs Karten von mir unterwegs. Ich sitze weiter hier herum, ohne etwas unternehmen zu können, denn jegliche Auswanderungsvorbereitungen sind noch immer gesperrt, und davon hängt doch bei mir ab, womit und wohin ich zu rechnen habe. Wohin, lieber Gott, ist meine große Schicksalsfrage; zu Dir oder nach Kuba, und der große allgemeine »Rausschmiss« kommt nicht infrage, lieber tot.
    Und es geht munter weiter damit. Noch bin ich aber gottlob gesund und auch sehr hoffnungsvoll im Gegensatz zu allen meinen Freunden, die sozusagen gepackt auf die Höllenfahrt warten. Diesen Gedanken lasse ich einfach nicht aufkommen, vielleicht schon ein Stadium des Irrsinns von mir, aber immerhin drückt es mich nicht so tief herunter, nicht mehr atmen zu können. »Mein Kind wird mich holen«, sage ich mir, darauf warte ich fest und stark; viel Zeit ist wahrscheinlich nicht mehr, doch noch genug, wenn mir ein besseres Los bestimmt ist.
    Keine Post von Ilse.

    Berlin, den 8.

November 1941
    Mein Geliebtes,

    ich weiß nicht, was ich davon denken soll, ob gut oder schlecht, dass ich seit dem 25.

Oktober keine Post von Dir habe. Anstatt dessen schicke ich fast täglich, enthaltend manches sehr Wichtige, aber leider alles unerledigt, und ich warte in größter Nervosität auf Beantwortung aller laufenden Sachen.
    Das Einzige, was mich in meiner Nervosität noch tröstet, ist der Gedanke, dass Du mir mit der nächsten Post greifbare, hilfreiche Resultate schreibst, oder aber das Ungewisse lässt einen kaum noch bei Besinnung. Hier ist wegen Auswanderung nach Kuba alles mit Brettern vernagelt, d.

h., keiner kriegt eine klare Auskunft, und Pässe werden nicht gegeben. Es ist zum Verrücktwerden.
    Keine Antwort aus den USA, und Du? Ach, mein Gutes, wenn ich nicht bald endlich weiß, woran ich bin, kann ich nervlich nicht weitermachen. Das alles ist einfach zu viel.
    Man bricht zusammen und alles mit mir, und es wäre alles nicht nötig, wenn Du auf das reagiertest, was jahrelang meine Rede war.

    Adieu und 1000 Küsse,
Deine Mutti

    Berlin, den 10.

November 1941
    Mein Geliebtes,

    von elf bis drei Uhr saß ich in diesem Jammerhaus Hilfsverein, wo Hunderte von Menschen, vom Unglück gezeichnet, herumsitzen und eigentlich nicht wissen, wozu. Hilfe und Rat wollen sie alle haben, nicht ein Einziger geht mit einer zufriedenstellenden Antwort ab, genau wie ich selbst.
    Als gestern, Samstagfrüh, Deine Karte kam, worin Du so ratlos und verzweifelt bist, war auch ich es natürlich, und ein paar Minuten später sehe ich den Depeschenboten an meinen Fenstern vorbeikommen, der ein Telegramm aus New York brachte!
    »APPLIED CUBAN VISA TAKES TWO WEEKS = KAUFMAN+«
    Ich musste vor Aufregung und Freude heulen, wie ich ja überhaupt bald fertig bin mit meiner Standhaftigkeit und vermeintlichen Energie. Was ich

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