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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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mal einer für 10 Pfennig. Im Oktober werden welche nachgeliefert, da man doch nicht immer dasselbe Kleidungsstück auf der Straße tragen kann und ich auch nicht so viel Nähgarn habe, immer abzutrennen und wieder anderwärts aufzunähen. Ja, man erlebt eben viel in unserer großen Zeit.
    Nun schließe ich mit einem herzlichen »Lesitonn Tamoo« [Grußformel] für Dich, möge uns der Herrgott in Gesundheit und Freude zusammenführen und uns alles hier vergessen machen. Amen.
    Was hat Edgar Dir geschenkt, gar nichts, was?

    Mit innigsten Küssen und lieben Gedanken an Dich –
Deine Mutti

    PS:
    Illemusch, eben heute Morgen erhalte ich einen Brief von Mrs.

Mills. Kurz gehalten, aber sehr herzlich. Sie hat nach New York dem HIAS-Komitee [Hebrew Immigrant Aid Society] wegen Information für Kuba geschrieben und versichert mir, alles zu tun, was sie kann, ich solle Mut haben und das Beste hoffen. Also heißt es weiter warten. Werde ihr gleich antworten und zu Jom Tow gratulieren, hättest auch Du tun müssen.
    Und am nächsten Morgen:

    Gestern war ich bei Grete Eisenberg. Mein Debüt mit Stern in der Straßenbahn, aber der Schaffner half mir wie stets das Trittbrett hinauf und sogar freundlich.
    Die hohen jüdischen Feiertage – »was aus mir wird, weiß der liebe Gott, falls es noch einen gibt« –, an denen sich Marie, auch wenn es ihre Synagogen nicht mehr gibt, weiter festhält, haben für Ilse wenig Bedeutung. Das Jüdische aus ihrer Kindheit, die Freitagabend-Essen auf dem Schoß von Großvater Chaskel oder die traditionellen Seder-Abende zum Pessachfest in der Landhausstraße haben sich in ihrem Leben nicht erhalten.

    Später hat Fred Heim nie Interesse, Ilse in »seine« Synagoge in der Löwenstrasse in Zürich mitzunehmen, wo sie als »Eindringling« von seinen missgünstigen Schwestern beäugt worden wäre. Auch anschließend, als ich mit Alfred dorthin zum Gebet gehe, kommt Ilse nie mit. Nur einmal im Jahr, an Jom Kippur, stellt sie sich für ein paar Minuten in den Halbschatten der letzten Frauenreihe; zur »Seelenfeier«, um den Toten die Ruhe zu geben – eigentlich jedoch um der eigenen Seele willen. In diesen Minuten des Mole-Rachamim-Gebets schweben Ilses Menschen herab, und Bilder ergreifen sie, und Namen gehen unhörbar über ihre Lippen, Namen, die ich von ihr nie gehört habe und von deren Leben und Tod ich damals nichts weiß. In diesen Augenblicken öffnet sie die Schuhkartons einen Spaltbreit, um sich des Verborgenen zu vergewissern.
    Nach dem Gebet treffen wir uns an der Straßenecke gegenüber der Synagoge. Sie küsst mich auf die Stirn und gibt mir nie den Anschein eines verborgenen, zweiten Blicks preis, um den Marie, Willi oder Chaskel sie gebeten haben. Schnell taucht sie dann ein in die Stadt. Sie scheut »jüdische« Begegnungen. Ich gehe wieder rein und stelle mich neben Alfred in die siebte oder achte Reihe, um die letzten langen Stunden des Fastens bis zum »Anbeißen« zu erdauern, so wie es auch meine Großmutter Marie ein Leben lang gehalten hat:

    So, mein Gutes, nun ziehe ich mich an, drei Uhr nachmittags, packe mir zwei Schrippen mit Sardellenpaste zum Anbeißen ein, nachher um ½ 6 bei Marta. Das passt zwar keiner, aber eine Tasse Kaffee werden sie mir dazu machen. Mir nutzt das Fasten nichts, und warum, wenn immer, nicht dieses Jahr?

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    »Wohin, lieber Gott, ist meine große Schicksalsfrage; zu Dir oder nach Kuba?«
    MARIE AM 5.

NOVEMBER 1941

    Berlin, den 4.

Oktober 1941

    Die meiste Zeit meiner Tage verbringe ich wie Du am Schreibtisch, das Einzige, was hier noch für mich Interesse hat, nämlich auf diese Weise noch wenigstens mit der Außenwelt verbunden zu sein. Vor zwei Tagen schickte ich einen Luftpostbrief an Louise, sie solle sich bezüglich des Depots für Kuba mit Mrs.

Mills verbinden, damit beide sich die dafür nötigen Mittel teilen können. Vielleicht gelingt es mir doch, mir auf diese Weise rettend zu helfen. Bald werde ich ja darüber im Klaren sein, nachdem ein nightletter von mir unterwegs nach Chicago ist, man solle mir kabeln, ob das Kubavisum eingeleitet wurde und wann mit dessen Erteilung zu rechnen ist.
    Mehr denn je ist heute mein Bestreben, hinauszukommen – wohin? Ist mir ganz gleich, so bitter und schwer es mir dabei zumute ist, mein schönes Heim mit Drum und Dran verlassen zu müssen und plan- und ziellos allein einer fremden Welt entgegen! Alt und fast fertig zum Resignieren. Aber hart auf hart, es nützt nichts, wenn man

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