Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Schuld? Wieso holt Ilse ihn mithilfe von Freunden nicht heraus, sie liebt ihn doch?
Zur Lösung eines anderen Rätsels hingegen trägt Onkel Willi in seinem Brief bei, Stichwort Heirat. Im Herbst 1941 kündigt ihm Ilse eine Liebesheirat an, »kein reines Opfer für Mutti« schreibt er zurück. Das kann nur auf einen von Ilses drei Männern zutreffen: Hiroshi Kitamura! Bitter nur, dass Ilse in Basel noch gar keine Urkunden bei sich hat, um die Ehe eilig anzumelden. Das alles muss erst mühsam in Berlin bestellt werden. Doch greifen wir den Ereignissen, auf die uns Willi aufmerksam macht, nicht vor.
Ab dem 23.
Oktober ist es klar, wie alle deutschen Juden wird auch Marie keinen Reisepass mehr bekommen, da können noch so viele Visa nach »irgendwo« in den Konsulaten warten – »was nutzt es mir, wenn ich keinen Pass habe, um das Visum hineinzuschreiben« –, das Kubavisum von Louise, an das sie sich so klammert, ist wertlos!
Es sieht »düster« aus. Auch Artur Sommer hat sich noch nicht bei ihr gemeldet. Jeder Tag bringt neuen Kummer: »Telefonisch möchte ich ihn nicht anfragen, und im Übrigen dürfen wir seit gestern nicht mehr an öffentlichen Fernsprechstellen telefonieren.«
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»Früher oder später, jeder!«
MARIE AM 26.
OKTOBER 1941
Berlin, den 16.
November 1941
Mein Geliebtes,
also wenn darin wenigstens nicht noch ein Wunder geschieht, bin ich verloren, und es nutzt meines Erachtens kein Mühen und Ringen um mich von draußen. Ich habe sehr geschluchzt, als ich gestern Deine Karten las. Ich selbst tue mir schon gar nicht mehr leid, sondern mehr Ihr, die Ihr um mich bangt und sorgt. Und der gute Onkel Willi! Ich weiß, was ich an ihm verloren habe.
Jedes Wort ist überflüssig. Er ist der beste Mensch auf der Welt und war mir in all meinen Nöten im Leben immer zur Seite. Die Tränen rollen mir bei diesen Gedanken übers Gesicht. Jetzt bin ich allein und glaube nicht mehr daran, dass mir zu helfen ist, zu spät, ein grässliches Wort. Viel, viel habe ich darum geredet und geschrieben, weil ich alles kommen sah und die Gründe wusste, leider vergeblich. Jetzt fehlt nur wirklich ein kleiner Schritt, und dann liege ich auf der Straße, immer mehr und mehr aus meinem Haus verdrängt.
Hier unten glaubte ich letzten Endes noch allein zu hausen, aber auch dies seit gestern nicht mehr. Mein Schlafzimmer ist besetzt, und ich schlafe auf der Couch in meinem Biedermeierzimmer, in meinem hübschen Wohnzimmerchen. Habe ja immerhin noch Glück mit der Zuweisung insofern, als es ein gebildetes, nettes und kultiviertes Mädchen von 22 Jahren ist, die den ganzen Tag nicht zu Hause ist, angeblich bei arischen Verwandten (oder sonst wo). In dem Zimmerchen selbst konnte ich meinen Kleider schrank für mich behalten und brauchte im Wäscheschrank nur zwei Fächer frei machen. (Es sind doch darin die zwei Schränke von Onkel Willi.)
Sie frühstückt nicht einmal hier, also kommt sozusagen nur zum Schlafen heim. Habe mir ausbedungen, nicht mein Badezimmer zu benutzen, sodass sie sich in der Waschküche wäscht und auch die Außentoilette benutzen wird. Auch geht sie zu ihrem Zimmer nicht durch meine Räume, sondern im Gang herum durch das Bad hinein in ihr Zimmerchen, schön ist was anderes, und meine letzte, bescheidene Bequemlichkeit ist dahin. Vielleicht und sogar sicher blöde, anmaßend von mir, nicht zufrieden zu sein, denn es kommt noch schlimmer, gebe mich gar keinen Täuschungen hin, also müsste ich doch glücklich sein, wie es noch ist. Immer wieder sage ich mir in meiner mich behafteten Wahnidee, dass nur ein Wunder geschehen muss.
Die Kleine nebenan packt aus und pfeift sich eins, ich denke nur, Du bist bei mir, sie ist auch so eine Göre, wie Du mit 22 Jahren warst, glücklich die Jugend, die unser bitteres Los nicht ganz so schwer nimmt. Ihr Toilettentisch hat 1a Kosmetik, darunter ein Parfüm für 35
Mark, wie sie sagt. Na, einen Freund wird sie schon haben, sie ist ganz niedlich, hellblonde, lange Locken, ganz belesen und nicht unintelligent.
Jedes Wesen hat heute in unserer Familie seine eigene Tragödie. Ihr arischer Vater ist tot, ihre jüdische Mutter ist in Leipzig und macht ihr Schwierigkeiten bei ihrem Bemühen, Mischling zu sein.
Puppchen, was weiter? Ich hätte Dir noch so viel zu sagen. Könnte denn Hiro nicht herkommen, frage ich Dich wieder? Dass Du den Anwalt zu mir schicken willst, ist gewiss gut gemeint, kann er mir denn helfen, wenn ich keinen Pass
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