Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
trotzdem dabei heute so geleistet habe, ist bewundernswert, muss ich schon sagen. Um sechs Uhr war ich zu Hause von früh zehn Uhr an, mit einer Schmalzschrippe und einem Apfel in der Tasche. Da ich dünner werde, bin ich gut zu Fuß, besser als je, und laufe, als wäre wirklich der Teufel schon hinter mir her (mag auch schon so sein).
Von Deinem sonstigen Inhalt der letzten Karte ist mir das Wichtigste und Ausschlaggebende für alles hier Deine Heirat und worin, dass ich umgehend Deinen Entschluss zur Erledigung aller damit verknüpften und Dir längst bekannten Punkte erfahre! Dass man endlich fünf Minuten vor zwölf Verständnis dafür aufbringen muss, ist wohl angesichts der Dringlichkeit notwendiger denn je.
Wenn Hiro, oder sonst wer immer, will, darf es kein Würden und Werden und wohl bald Wollen mehr geben, wie all die vergeudeten Jahre, jetzt heißt es nämlich, es lohnt sich noch. Was Du letztens wieder von Fredi schreibst, nämlich dass er verschlossen gegen jede gute Tat für mich ist, hätte ich nicht gedacht, da Du kurz vorher so beglückt warst über seine Hilfe, falls sie Erfolg brächte.
Es überkommt mich dann immer der Schmerz, es ist ja für alles wohl zu spät, und mein Erlebnis und Gleichnis mit der Maus im Ertrinken in der Badewanne wird, gottbehüte, letzten Endes krasse Wirklichkeit. Gute Nacht, mein Gutes, es ist ½ 11
Uhr, und ich bin reichlich abgespannt. Vorläufig glücklich noch mit meinem schönen sauberen Bett. Viele, viele haben ja keins mehr, nur noch Strohsäcke! Tausende Gedanken schwirren in meinem alten resignierenden Schädel herum, und ich kann’s nicht mehr ändern, Du hättest es noch können!
Ich küsse Dich wie stets herzhaft,
Deine Mutti
Am 11.
November schreibt Onkel Willi aus Charlieu, etwa 250 Kilometer westlich von Genf an der Loire gelegen, an Ilse.
Liebste Illemaus,
gestern habe ich Deinen Brief erhalten. Ja, es ist wirklich zum Wahnsinnigwerden, als ich Deinen Bericht über Mutti und das ihr in Aussicht stehende Schicksal las. Die Augen sind mir feucht geworden vor ohnmächtiger Wut! Aber dann kam Dein Bericht über Deine persönlichen Angelegenheiten, und dann ist mir etwas leichter ums Herz geworden. Und ich bin sehr froh, aus Deinen Worten entnehmen zu können, dass die Heirat von Dir nicht als reines Opfer für Mutti anzusehen ist, sondern, wie ich von ganzem Herzen hoffe, Dein eigenes Glück bedeuten würde. Ach, wie sehr ich hoffe, dass es das Schicksal, wie Du schreibst, auch noch einmal gut mit Mutti und Dir meinen möge. Sonst, wenn Mutti das Schicksal ihrer Freundin erleiden würde, was ja ihr Ende bedeuten würde, ist das Leben für mich abgeschlossen. Keinesfalls kommt es für mich infrage, bevor ich über Muttis Schicksal beruhigt sein kann, nach USA zu gehen.
Ganz im Gegenteil, falls Deine Pläne und Schritte, gottbehüte, nicht Erfolg haben sollten, habe ich mir eben überlegt, will ich Folgendes ver suchen. Ich will mich anbieten, nach B. zurückzugehen und dort nach Wunsch zu arbeiten, da, wie Du ja auch weißt, dort Leute mit meinem Spezial- und allgemein technischen Wissen dringend gebraucht werden. Vorbedingung dafür wäre, dass man mir einwandfrei zusichert, dass ich in B. unbehelligt mit Mutti zusammenleben kann oder wenigstens Mutti in B. weiter ruhig leben kann.
Darum bitte ich Dich – wenn Du den Augenblick für günstig erachtest mit dem dortigen Konsul – unter Einschaltung Deiner Beziehungen diesbezüglich Fühlung zu nehmen, wobei man erwähnen könnte, dass ich das Frontkämpfer-Abzeichen etc. habe.
Dass Du Deine Besuchs-Visa nicht bekommen hast, ist wirklich sehr, sehr schade und schmerzlich. Aber mach Dir um mich keine Sorge, ich werde auch so mit meinen Sachen durchkommen, und im Grunde ist das auch alles unwichtig. Wichtig, geliebtes Kind, ist Deine und Muttis Zukunft! Wichtig für uns in unserem kleinen Kreis, wenn man von den Welt-Wichtigkeiten absieht!!
Leb wohl, meine liebe, liebe Illepuppe. Meine heißesten Wünsche umkreisen Dich!
Dein alter Onkel Willi
Warum Willi Eisenberg nicht, wie andere auch, den Weg über die Zone franche nach Genf sucht, um sich bis zu Ilse durchzuschlagen, und stattdessen darüber nachsinnt, nach Berlin zurückzukehren, bleibt ungeklärt und unerklärt. Weiß er denn nicht, was mit Juden in den von Deutschland besetzten Ländern geschieht? Ist seine Wahrnehmung getrübt? Steht er bei seiner Schwester wegen der Ausreisepapiere und des »verprassten« Reisegeldes in der
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