Ich will vergelten: Thriller (German Edition)
Lage gern an ihrer Seite gehabt. Aber er war kaum mehr als ein Kind. Er sah völlig verunsichert aus – ernsthaft verängstigt.
»Ist das Ihr erster?«
Er nickte.
»Dann tun Sie einfach genau das, was ich sage, und alles wird gut. Die Spurensicherung ist auf dem Weg. Bis dahin sind wir nur zu zweit, Sie und ich …« Daniels lächelte ihm beruhigend zu. Sie waren zwei Fremde, meilenweit entfernt von allem. In abgelegenen Gegenden mussten Polizeibeamte schon immer Ausrüstung dabeihaben, mit der ihre Kollegen in der Stadt nichts anzufangen wüssten. Der junge Polizeibeamte hatte gute Arbeit geleistet. Sie zeigte auf das Zelt. »Haben Sie das ganz allein aufgebaut?«
»Ich und mein diensthabender Sergeant, Ma’am.«
»Gute Arbeit.« Sie nickte in Richtung der sich nähernden Gruppe. »Jetzt gehen Sie ans Funkgerät. Ich will diese Leute hier weghaben.« Sie wartete darauf, dass er sich in Gang setzte. »Äh, heute noch, wenn’s möglich ist.«
»Können wir das machen, Ma’am? Ich meine, das Kastell ist doch Weltkulturerbe.«
»Und wenn’s der Geburtsort von Julius Cäsar wäre, wär’s mir auch egal!« Sie blitzte ihn an. »Ich will die hier weghaben. Also, auf geht’s.«
Daniels hob den Zipfel des Zelts an und ging hinein. Eine junge Frau lag rücklings auf dem Boden, ihr Körper merkwürdig verdreht wie der einer weggeworfenen Lumpenpuppe. Sie hatte langes blondes Haar und makellose Haut. Ein grüner Schal um ihren Hals passte genau zur Farbe ihrer Augen. Es gab Anzeichen von Blutverlust an ihrem linken Ohr, etwas war heruntergetropft, hatte sich in einer kleinen Lache gesammelt und war im Gras direkt neben ihr getrocknet. Ein Schuh fehlte, aber abgesehen davon war sie vollständig bekleidet.
Daniels konnte hören, wie der Polizist per Funkgerät den Kontrollraum drängte, die Dinge zu beschleunigen. Als sie sich gerade zu der Leiche hinunterbeugte, trat er neben sie, wobei er umsichtig darauf achtete, die Laufflächen zu beachten, um keine Spuren zu vernichten.
»Kommt Ihnen irgendwas komisch vor?«, fragte sie.
»Ma’am?«
»Sie sieht mehr nach Hafenviertel aus als nach Oberstadt, finden Sie nicht?«
Der Polizist unterdrückte ein Grinsen. Das Hafenviertel von Newcastle war das pulsierende Zentrum einer Partystadt, ungefähr dreißig Meilen entfernt. Er sah zu, wie Daniels einen Stift aus der Tasche zog. Vorsichtig fasste sie mit dem Ende unter das Knöchelriemchen eines hochhackigen Lederschuhs, der ein paar Meter von der Leiche entfernt im Gras lag.
»Mit denen hier an den Füßen kann sie nicht weit gelaufen sein …« Daniels untersuchte den zehn Zentimeter hohen Pfennigabsatz, wobei sie ihn sich dicht vors Gesicht hielt und herumdrehte, damit sie den Zustand des Absatzes begutachten konnte. »Ehrlich gesagt ist es ein Wunder, dass sie überhaupt damit laufen konnte!«
»Was suchen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ein Anzeichen dafür, ob der Schuh abgerissen wurde oder abgefallen ist.«
»Und was war’s?«, fragte er nach.
»Ich würde Letzteres vermuten, aber nageln Sie mich nicht darauf fest.«
Daniels versuchte herauszufinden, wie das Mädchen hierhergekommen war. Sie waren ziemlich weit entfernt von einer Hauptstraße. Gestern Nacht hatte es geregnet, und es war kein Schlamm am Absatz. Komischerweise gab es aber draußen auch keinerlei Schleifspuren auf dem Boden oder Reifenabdrücke. Der Tatort teilte ihr überhaupt nichts mit, und das beunruhigte sie. »Besorgen Sie mir einen Wagen, bitte? Und wenn Sie schon dabei sind, sorgen Sie dafür, dass der Parkplatz von Housesteads auf verlassene Autos untersucht wird. Ich kann mir nicht vorstellen …«
Aber der junge Constable war bereits weggegangen, um ihre Befehle auszuführen. Daniels lächelte. Der Junge war motiviert, würde es vielleicht sogar eines Tages zum Detective schaffen. Sie sah auf die Uhr und stand auf, in der Hoffnung, dass der Pathologe bald käme. Sie folgte dem Polizisten nach draußen, hob die Hand gegen den Schein der Morgensonne. Am Horizont regte sich etwas. Ein paar Uniformierte waren dabei, ihr wachsendes Publikum zusammenzutreiben, das ausdruckslose Gesichter auf sie gerichtet hielt, begierig darauf zu erfahren, was los war. Gestalten in weißen Kapuzenoveralls verließen den Parkplatz. Hinter ihnen tauchte wie gerufen ein ihr vertrauter Range Rover auf. Tim Stanton, Pathologe des Innenministeriums, stieg mit einem schwarzen Koffer für forensisches Beweismaterial in der Hand aus und stolperte über den
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