Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
oder Wissen um den Judenstern? – Die Russen da unten sind immer vergnügt.) Der Händler hatte meine Briketts und den Zentner markenfreien (Flöz) aus den Säcken in den Wagen geschüttet. Ich trug das Zeug nun in Eimern in den tiefen Keller. Ein sehr vollbusiges und sehr junges Mädchen erschien, besternt, ließ sich nicht abweisen und half tragen. Ich fragte nach ihrem Namen. Ilse Frischmann. (Mischling. Ursprünglich aus dem Protektorat. Seit der Ermordung Heydrichs besternt.)
Von Sußmann endlich ein Brief. Der erste seit Oktober. Einer verlorengegangen. Seine Tochter Käte hat einen amerikanischen Buchhalter geheiratet. Georg lebt noch. All seine Söhne haben Kinder, die in USA alle von amerikanischen Frauen. Mir ging unser Familienschicksal und das Schicksal unseres Blutes durch den Kopf. Vater stammt aus dem Prager Ghetto. Seine Söhne waren bedeutende Leute in Deutschland. Seine Enkel sitzen in England, Amerika, Schweden. Seine Urenkel haben schwedisches und amerikanisches Blut und werden nichts von ihm wissen. –
Ich werde die Korrespondenz mit Sußmann nicht weiterführen können. Seit dem 15. 1. sind neue Postbestimmungen heraus. Zur Auslandskorrespondenz ist eine polizeiliche Kontrollkarte nötig, die an Juden nicht ausgegeben wird. Eva vorzuschieben ist mir zu gefährlich. Ich will mich an Änny Klemperer wenden. Aber ich weiß ihre Adresse nicht mehr, so lange sind wir auseinander. Und ob sie noch lebt? Ob ihr Haus, ihre Straße – in der Nähe des Anhalter Bahnhofs! – noch steht? Eva wird ein Berliner Adreßbuch aufstöbern.
Heroische Köpenickiade. Unter den vielen Todesanzeigen der Gefallenen (Hakenkreuz im EK zur Seite), »Dresdener Zeitung«, 19. 1. 44: »Vom Schicksal bestimmt, wurde mir mein einziger lieber Sohn, cand. chem. Obgfr. Horst-Siegfried Weigmann, Kriegsfreiw., Inh. d. EK II, Teilnehmer am Polen- und Frankreichfeldzug, im schönsten Alter von 24 Jahren mitten im Studium plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen. In tiefer Trauer Bruno Weigmann, Kammervirtuos, München.« – Paul Lang, der Arzt, und Dr. Katz haben den Toten persönlich gekannt, sein Schicksal, das ich erst für Legende hielt, wird verbürgt von mehreren Seiten übereinstimmend berichtet. Seine Mutter, vom Vater geschieden, war Jüdin und wurde neulich bei der letzten Aktion (LTI-Wort!) mit verhaftet. Der Sohn (wie Erich Meyerhofs Söhne im Anfang Soldat) ging ins Polizeipräsidium, er sei Kommissar der Gestapo, wolle die Häftlingin sprechen und irgendwohin bringen. Er kam tatsächlich mit ihr bis an den Ausgang des Präsidiums; einmal draußen, hätte er sie in Sicherheitgebracht. (Es sollen sich, besonders in Berlin, viele Juden versteckt halten; auch Eva Büttner dürfte noch leben.) Dort lief er einem Gestapobeamten in die Arme, der ihn kannte. Die Mutter ist jetzt in Theresienstadt, der Sohn hat sich in der Zelle erhängt. »Sich erhängt« – wieweit war es Selbstmord? – Und dazu die Todesanzeige mit dem Feldzugskreuz! Aber der ist wirklich auf dem Felde der Ehre gefallen und hat mehr Tapferkeit bewiesen als irgendein Soldat in der Schlacht. Er wird fraglos unsterblich sein und auch in die Literaturgeschichte eingehen als Held von Dramen und Romanen. Katz sagte: »Ich kannte ihn und seine Verhältnisse, ich könnte in vierzehn Tagen ein Drehbuch seines Falles schreiben.«
29. Januar, Sonnabend, neunzehn Uhr
Aus Überdruß und Erschöpfung meldete ich mich gestern nachmittag krank (zwei Tage darf man ohne Arztzeugnis »krank machen«). Der Meister Hartwig peinigt mich. Er ist nicht ungutmütig, er kam am Nachmittag des Schimpftages zu mir, redete mir gut zu, entschuldigte sich halbwegs, richtete an meiner Maschine herum. Aber der Friede kann nicht anhalten, eine endgiltige Explosion steht sicher bevor. Denn der Mann verlangt von mir, was ich nicht leisten kann; ich kann nicht wie eine geübte Arbeiterin abzählen und einkasteln, während die Maschine läuft, ich kann die Maschine nicht ununterbrochen »loofen lassen«, ich kann nicht ohne Packerhilfe 10 000 »Aktentaschen« täglich fertigmachen. Hartwig rechnet mir immer wieder [vor], daß ich meinen Stundenlohn nicht verdiene, er begreift einfach nicht, daß ich kein gelernter Fabrikarbeiter bin. »Es ist doch so einfach!« … Und ebenso gehn mir die Arbeitskollegen auf die Nerven. Ich nehme jetzt keinen Essentopf mehr mit nach Haus, ich will mir nicht mehr in mein Privatleben einsehen und dreinreden lassen. Lang gab mir darauf die nicht ganz
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