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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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dann hier unten zusammen, wir frühstücken noch hier, und um acht, wenn Scherner erscheint, ziehen wir nach oben. Schon gewohnt.
    Aber neue würgende Besorgnis. Wenn wir gegen Abend herunterkommen, ist ein Haufen Leute hier. Mit allen ist Scherner intim, allen stellt er uns gleich vor. »Herr und Frau Professor Klemperer« hier und dort und überall, in aller Munde. Gewiß, Freunde, harmlose Leute. Gestern bot mir eine dicke Frau ein Paar Wollstrümpfe an; ich lehnte ab, da warf sie im Weggehen Eva zwei »Leichenfinger«-Käse auf die Handtasche, »damit Sie nicht so sehr hungern!« Aber all diese Harmlosen haben Verwandtschaft, Freundschaft, alle Konnex mit Dresden. Sodann und tausendmal schlimmer: Gestern haben wir unsere polizeiliche Anmeldung, von Scherner und dem Hauswirt (der ADCA) unterschrieben, abgegeben. Victor Klemperer, em. Professor aus Dresden. Es gibt natürlich auch hier Gestapo. Und natürlich wird sie doch den Zuzug kontrollieren. Was weiß sie, wen sucht sie? Klemperer ist ein seltener und bekannter Judenname. (Die Bank-Klemperers.) Es ist ein entsetzliches Gefühl.
    Vormittags neun Uhr
    Die Anmeldung ist noch nicht abgegeben, noch nicht vom Wirt unterzeichnet. Der Wirt (ADCA-Filialleiter) ist Eva unheimlich,auch hält sie ihn, da wir nur Besucher , nicht Mieter sind, für unnötig. Sie will zu inhibieren suchen. Aber was dann weiter? Gar nicht abgeben? Verschleiernd ändern? Alles ist unendlich erschwert durch Scherners doppeltes Nichtverstehen. Einmal ist er ahnungslos und begreift nicht die Schwierigkeit unserer Lage (und zu ängstlich und befangen machen dürfen wir ihn nicht); zum andern ist er überaus schwerhörig, man muß zu ihm brüllen. Wir denken an weitere Flucht – aber wohin?
10. März, Sonnabend
    Die Anmeldeaffäre schwebt. Schwersten Herzens schrieb ich Landsberg statt Dresden. (Es geht immerhin, alles übrige, schon der Haarschnitt beim Friseur, brächte mir ja auch schon den Tod.) Ich habe Scherner für alle Fälle um Veronal gebeten. Er zögert noch. Es wird sich darum handeln, ob wir den Schein ohne nochmalige Unterschrift des ADCA-Wirtes abgeben können, ferner, ob man mich vom Arbeitsamt verlangt. Eva will jetzt bald zum Rathaus. –
    Nachmittag gegen sechzehn Uhr, Privatkontor
    Die Meldescheine wurden abgenommen, einer blieb uns, einer bleibt im Rathaus, einer kommt aufs Landratsamt nach Auerbach. Von Zuzugsgenehmigung war nicht mehr die Rede, vom Arbeitsamt auch nicht. Möglich also, daß die Zettel unter tausend andern versinken, daß ich eine Weile Ruhe habe.
19. März, Montag, halb zehn Uhr, oben
    Ich habe den größeren Teil dieser Gerlach- und Molo-Notiz erst jetzt hier oben geschrieben, und das ist nun meine Art des Stoizismus; denn inzwischen ist Eva, der ich mich überlasse, bereits an Scherner herangetreten, mit einem fertigen Seiltänzerplan – ich kann noch nicht einmal sagen, das Seil sei über den Abgrund gespannt, denn es wird münchhausenhaft in die Luft geworfen, unter uns abgeschnitten, höhergeworfen. Bayern, Richtung Schweitenkirchen, geänderter Name, verlorene Papiere – Mixtur aus Karl May und Sherlock Holmes. Unsererichtigen Papiere, unsere Manuskripte (Evas Kompositionen, mein Stück Tagebuch) sollen bei Scherner deponiert werden, der Judenstern auch. Ich werde fünf Jahre älter sein und Studienrat aus Landsberg a. W. Geld soll uns Scherner geben. – Das ist alles irrsinnig und entsetzlich gewagt.
27. März, Dienstag vormittag
    Aus der Amalienapotheke in Dresden bekam ich voriges Jahr eine Flasche Jodmixtur nach Katz’ Rezept. Darauf stand mein Name Kleinpeter . Veränderung zweier Buchstaben, überaus leicht kann man m als in und r als t lesen (oder vom ersten zum zweiten Zustand überführen). Das ist uns jetzt eingefallen.
31. März, Sonnabend abend nach einundzwanzig Uhr
    Eva hat uns also hier für den 3. April abgemeldet. Der Heeresbericht zeigt auch heute große Fortschritte der Alliierten in Ost und West, aber ein Ende läßt er auch heute nicht absehen, und das Aufpeitschen der Resistenz unter wüstester Beschimpfung der Feinde hält an. Wir fahren also auf Wochen, vielleicht auf Monate ins Leere mit all seinen Gefahren.
1. April, Ostersonntag Achtzehn Uhr
    Scherner sprach mir heute Mut zu: »Du nimmst noch am Wiederaufbau teil, du wirst noch Rektor der TH.« Ich sagte, an eine aktive Rolle für mich glaubte ich selbst, wenn ich über die nächsten Wochen hinwegkäme. Wenn , das ist das große Fragezeichen.
    Dreiundzwanzig Uhr
    Zum

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