Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
und sprach mich russisch an. Er rückte mir dicht auf den Leib, setzte sich derart an die Kante des Tisches und Sofas, daß mir keinerlei Bewegung blieb und sprach nicht unfreundlich, aber sehr energisch und eindringlich. Ich sagte: »Je ne comprends pas« und »Ja Gewree« (wie mir Eisenmann beigebracht), gab ihm meinen Paß, wies auf das »J« – er redete ungeduldig weiter. Endlich kam eine ältere Dame am Krückstock, Baltin, die russisch verstand, und machte die Dolmetscherin. Der Offizier wollte vor allem wissen, wann ich »nach Deutschland gekommen« sei. Es dauerte lange, bis ich den beiden klarmachte, daß meine Familie seit 200 Jahren in Deutschland lebte, daß Landsberg a. W. bis 1918 zur Provinz Brandenburg gehört. Danach gab ich genaue Auskunft über meine Position vor und nach 1933, sagte auch mit einigem Avec, daß unsere Familie drei Brockhausleute gestellt und daß Georg Lenin behandelt habe. Da stand der Offizier endlich auf, klopfte mir freundlich begönnernd auf die Schulter und ging. Die Geschichte, verbunden mit alledem, was ich nun schon vonselbstverständlichen Plünderungen und Vergewaltigungen gehört, war mir doch reichlich peinlich – ganz so weit ab von der Gestapoverhaftung auf der Tram – »ich will ihn mal flöhen!« – hatte sie ja schließlich nicht gelegen.
Am Sonnabend, dem 9. Juni, war ich vormittags beim Friseur und ließ mich scheren, dann warteten wir – ungegessen, nachdem alle Versuche, ein Mittagbrot zu erhalten, gescheitert waren, sehr skeptisch unter einer Riesenmenge auf dem Bahnhof. Wären wir nicht befördert worden, so wären wir zu Fuß gegangen. Und am Morgen des fünfzehnten Reisetages, am Sonntag, den 10. Juni, waren wir also in Dresden.
Aber eigentlich gehört dieser Sonntag auch noch zur Heimreise, denn er brachte ja den märchenhaften Umschwung. Der Tag begann trübe genug. Wir wanderten müde und hungrig zum Neustädter Bahnhof – nada! Wir wanderten zu dem gegenüber befindlichen Polizeibureau. Eine richtige und eine falsche Auskunft bei sehr freundlicher Aufnahme. Gehen Sie gleich nach Dölzschen! Ich wandte ein, es werde Zeit kosten, bis ich da in mein Haus käme. Der Beamte feixte: Sie wissen gar nicht, wie schnell das manchmal geht! Und damit hatte er recht behalten. Wobei mir zugute kam, daß Berger getürmt war … Aber was den Hunger anlangte, so hieß es, im Flüchtlingslager Glacisstraße würden wir beköstigt werden, und dort schliefen über verlassenen Räumen im Oberstock russische Posten. Der Weg war also ganz umsonst. Nun sagte uns jemand auf der Straße, ein Lager befinde sich, ich glaube, in der Markgrafenstraße. Dort fanden wir nur ein Lazarett, aber wieder keine Verpflegstelle. Dann wanderten wir, immer nüchtern und nach der unmöglichen Nacht, durch all die Zerstörung zur Altstadt hinüber. In der Theaterstraße sollte eine Auskunftsstelle über Einwohner und Ausgebombte sein. Sie war geschlossen. Dann schleppten wir uns – kein übertreibendes Verb! – zum Schweizer Viertel: das Haus der Frau Ahrens, das Haus der Windes zerstört, keine Auskunft zu erlangen. Nur ein alter Mann, der seine Frau verloren und dem tags zuvor ein russischer Soldat seinen Hund geraubt hatte, gab mit Bestimmtheitan, daß die Ahrensleute gerettet seien (er wußte aber nicht, wohin). Schließlich fanden wir, innen ein bißchen beschädigt, aber im ganzen geradezu wunderbar zwischen lauter Ruinen erhalten, das Glasersche Haus. Dies war die Wendung zum Märchen. Frau Glaser empfing uns mit Tränen und Küssen, sie hatte uns für tot gehalten. Er, Glaser, war etwas klapprig und apathisch. Wir wurden gespeist, wir konnten uns ausruhen. Am späteren Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf.
Anmerkungen
9 Reichsbanner – Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund Deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner, 1924 von Sozialdemokraten zum Schutz der Weimarer Republik gegründet; 1933 aufgelöst.
9 die plumpe Sache des Reichstagsbrandes – Die Zerstörung des Reichstagsgebäudes in Berlin durch Brandstiftung am 27. 2. 1933 wurde von den Nationalsozialisten als Anlaß für umfangreiche Verfolgungen von Kommunisten und Sozialdemokraten und für den Erlaß der »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat« vom 28. 2. 1933 genutzt.
9 Eva – Eva Klemperer, geb. Schlemmer (1882–1951), aus Königsberg stammende Pianistin, seit 1906 Victor Klemperers Frau in erster Ehe.
9 Blumenfelds – Walter Blumenfeld (1882–1967), Psychologe, 1924–1935 Professor am
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