Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
sollten nun auch von einer Speditionsfirma nach Schönheide mitgenommen werden. Sollten . Aber diese bestimmt dorthin fahrende und Leute mit Passierschein gern mitnehmende Firma fuhr überhaupt nicht in diese Richtung, und Privatautos, hieß es, scheuten noch die Unsicherheit des Niemandslandes, und so mußten wir die etwa 18 km zur »Sollte«-Bahnstation wieder tippeln. Als Mahlzeit bekamen wir in Auerbach mit Müh und Not und Kampf wieder Rübenschnitzel, Läden zum Einkaufen waren geschlossen, in Mittagsglut wurde losgewandert. Ein Pferdewagen half über die böseste Nachtischstunde, so kamen wir nach Rodewisch .
Dieser Weg nach Schnarrtanne und dann nach Schönheide weiter war so baedekerhaft und bildschön und gefundenes Touristenfressen wie neulich der Lupinenweg. Aber das stieg und stieg und stieg, und ich war bei ständiger Hitze so sehr von Kräften. Und schließlich noch die weite Strecke von Schönheide nach Schönheider Hammer . Aber da war der Bahnanschluß wirklich erreicht. Wir übernachteten im Carlshof, ohne Verpflegung, ohne Möglichkeit, aus den Kleidern zu kommen.
Der dreizehnte Tag also: Donnerstag, 7. Juni, Strecke Falkenstein–Schönheider Hammer.
Der vierzehnte und vorletzte Reisetag ist durch trocken Brot und Wasser ausgezeichnet. Und durch den Fanatismus der durchwegüberreizten kleinen Flüchtlingsleute in dem Carlshof. Eine Frau, Breslauerin, schimpfte fanatisch auf Hitler, eine andere, die vor den Russen geflohen war, schimpfte ebenso fanatisch auf die Russen und erklärte alle deutschen Greueltaten in Rußland für Lügen und Hetzpropaganda – niemals hätte ein deutscher Soldat geplündert oder sonst etwas Böses begangen … Wir hielten uns abseits und saßen im Garten des Lokals oder am Bahnrand, bis endlich der Zug kam, ein richtiger Personenzug, für den wir Billette zweiter Klasse hatten lösen müssen.
Vierzehnter Reisetag also war Freitag, 8. Juni, Strecke Schönheider Hammer–Chemnitz.
Die Innenstadt Chemnitz’ schien ganz zerstört, viele Häuser standen zwar, waren aber unbewohnt und unbewohnbar, dazwischen Ruinen, Schutthaufen, irgendwo ein großer Platz mit nichts als Geröll und einem riesigen Kandelaber, der unversehrt hervorragte – im ganzen das übliche Bild.
Bei alledem: Ich hatte immerhin den momentanen Eindruck, aus dem Stromerleben aufgetaucht und wieder zu den Freuden (wenn auch vorerst den verlogensten) der Zivilisation zurückgekehrt zu sein. – Ich wurde sehr enttäuscht, und es war wieder eine doppelte Enttäuschung. Ich belud mich, wir wanderten eine Weile durch die schwüle Hitze, fanden weiter draußen eine Trambahn, die bis zum Bahnhof Hilbersdorf ging, und erfuhren dort (wo wieder ein Flüchtlingshaufen auf den Treppenstufen etc. kampierte), daß der nächste Zug nach Dresden erst heute, »etwa« um drei Uhr nachmittags fahren werde. Aber »gestern« sei er erst um sieben Uhr abends abgegangen, und immer sei er sehr überfüllt und unregelmäßig. Welch vielfältige Kalamität für uns!
Wir gingen ratlos und übermüdet die Straßen weiter hinaus und stießen auf einen einfachen Gasthof. Es war drin in Gaststube und Wohnstube ein sehr reges Leben, deutsches Militär, Zivil und russisches Militär durcheinander. Ich sah die Russen zum erstenmal, graugrün und sportlich leicht gekleidet wie die Amerikaner, aber in Kitteln. Die Wirtin nahm uns seltsamerweise sogleichfreundlich auf; wir sollten im Saal schlafen, er sei wenig besetzt, sie wolle uns auch Kaffee und Kartoffeln kochen (ich gab ihr unsere Kartoffel- und Urlaubermarken). Wirklich brachte sie uns nachher eine Schüssel Pellkartoffeln und eine Kanne Kaffee, später sogar noch Bier, wir waren wie erlöst.
Bald darauf kam jemand von den Wirtsleuten: Die Russen wollten wissen, was für ein Professor ich sei, einer habe ganz aufgeregt gefragt, was das für ein »Typ« sei. Daß ich in dem armseligen Vorstadthotel unter Landsern und Volk auffiel, verdanke ich kaum meinem bedeutenden Gesicht, viel eher dem hohen weißen Kragen, den ich am 15. Februar in Klotzsche gekauft und immer vermieden hatte, und den ich nun tragen mußte, da das Hemd mit dem weichen Umlegekragen gänzlich hinüber war: Dieser bourgeoise Stehkragen und dazu die zerschlissene Kleidung des Landstreichers und der mehrtägige weiße Stoppelbart – es sah nach Evas Wort aus wie die schlechte Verkleidung eines flüchtigen Bourgeois und Antibolschewiken. Ein riesiger Kerl, Hauptmann, wie ich nachher erfuhr, kam an mich heran
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