Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
ungemein und vielleicht übermäßig geschätzt worden, aber doch wohl niemals so einseitig, so unter gleichzeitiger Herabsetzung des Geistigen wie jetzt bei uns (Bewertung der Schulleistung, das Schimpfwort »intellektualistisch«); auch ist zu bedenken, daß diese Sportländer keine allgemeine Wehrpflicht haben. Und 2. ist mir die Olympiade so verhaßt, weil sie nicht eine Sache des Sports ist – bei uns meine ich –, sondern ganz und gar ein politisches Unternehmen. »Deutsche Renaissance durch Hitler« las ich neulich. Immerfort wird dem Volk und den Fremden eingetrichtert, daß man hier den Aufschwung, die Blüte, den neuen Geist, die Einigkeit, Festigkeit und Herrlichkeit, natürlich auch den friedlichen, die ganze Welt liebevoll umfassenden Geist des Dritten Reiches sehe. Die Sprechchöre sind (für die Dauer der Olympiade) verboten, Judenhetze, kriegerische Töne, alles Anrüchige ist aus den Zeitungen verschwunden, bis zum 16. August, und ebensolange hängen überall Tag und Nacht die Hakenkreuzfahnen. In englisch geschriebenen Artikeln werden »Unsere Gäste« immer wieder darauf hingewiesen, wie friedlich und freudig es bei uns zugehe, während in Spanien »kommunistische Horden« Raub und Totschlag begingen. Und alles haben wir in Hülle und Fülle. Aber der Schlächter hier und der Gemüsehändler klagen über Warennot und Teuerung, weil alles nach Berlin gesandt werden müsse. Und die »Hunderttausende« in Berlin sind durch »Kraft und Freude« herangeschafft; die Ausländer, vor denen »Deutschland wie ein offenes Buch« aufgeschlagen liegen soll – aber wer hat denn die aufgeschlagenen Stellen ausgewählt und vorbereitet? –, sind nicht sehr zahlreich, und die Berliner Zimmervermieter klagen.
29. August, Sonnabend
Am Mittwoch waren wir zum Abendbrot bei Frau Schaps und trafen dort Gerstles; er war im Begriff, eine Geschäftsreise nach Paris anzutreten. Es ist mir an Gerstles peinlich, daß sie in der Alternative Nationalsozialismus – Bolschewismus den Nationalsozialismus vorziehen. Mir sind beide zuwider, ich sehe ihre enge Verwandtschaft (das übrigens tut Gerstle auch), aber die Rassenidee des Nationalsozialismus scheint mir das Allertierischste (in buchstäblicher Wortbedeutung). – Gerstles erzählten von einem leichten Autozusammenstoß der Frau Salzburg in einer oberbayrischen Kurve. Beide Teile haben Kotflügelschaden, schieben sich die Schuld zu, beschimpfen sich heftig und angstvoll, bis sie sich gegenseitig als Nicht-Arier erkennen: sofortiges beiderseitiges Aufatmen der Erleichterung, raschester Friedensschluß … Ein ziemlich zufriedener Luftpostbrief der Blumenfelds aus Lima wurde verlesen. Von einer uns bekannten Freundin Grete Blumenfelds wurde erzählt, daß sie in Johannesburg einen Salon de beauté aufgemacht habe. Von Erika Ballin-Dreyfuß wurde berichtet, daß sie auch schon in Südafrika ihr Auskommen finde, während ihr Mann noch in London am Nachliefern des ärztlichen Examens arbeite. So viele Leute bauen sich irgendwo eine neue Existenz auf, und wir warten hier mit gebundenen Händen. Heute spricht hier Streicher. Seit vielen Tagen wird diese »Großkundgebung« mit allen Methoden der Wahlen vorbereitet: Plakate, breite Inschriftbänder quer über die Straßen, Umzüge, Trommler und Sprechchöre. Anzeige, es werde am Königsufer »ein Wald von hundert Fahnen« aufgebaut, davor ein elf Meter hoher Turm; von ihm aus, scheinwerferbeleuchtet, spreche der Frankenführer und »Stürmer«. Die Zeitung bringt heut sein Autogramm: »Wer mit dem Juden kämpft, ringt mit dem Teufel«. Es ist mir oft sehr zweifelhaft, ob wir das dritte Reich lebendig überstehen werden. Und doch leben wir auf alte Weise weiter.
9. September, Mittwoch gegen Abend
Den ganzen Tag ergebnislos am ersten Kapitel Rousseau gesessen. Heißer Kopf und völlige Depression. Um so schlimmere, als ich mir immer wieder sagen muß, daß all diese Mühe zwecklos ist. Was liegt daran, ob ich einen Manuskriptstoß mehr oder weniger im Schreibtisch liegen habe. Das NS-Regime sitzt fester als je; eben triumphiert man in Nürnberg: »Parteitag der Ehre«, und macht Pläne für die Ewigkeit. Und alle Welt innen und außen duckt sich. Die jüdischen Kulturbünde (man sollte sie hängen) haben eine Erklärung abgegeben, sie hätten nichts mit den ausländischen Hetznachrichten über die Lage der deutschen Juden zu tun. Nächstens werden sie dem »Stürmer« bescheinigen, daß er lautere Wahrheit in liebevollster Weise
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