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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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er deutlich senil. Er ist 71 geworden, wir kannten ihn wohl ein gutes Dutzend Jahre. Dann kam gestern die Nachricht, daß sich Kalix erschossen habe. Ich habe den Hund nie gesehen, aber jahrelang seine schmutzige Verfolgung gefühlt. Er war hier Bürgermeister, bekannt als verkommenes Subjekt, allgemein verhaßt und gefürchtet. Mir hat er zweimal mit Verhaftung gedroht. Todesursache dürfte venerische Krankheit oder Unterschlagung oder beides sein. Der typische kleine Würdenträger des dritten Reichs. Wir nahmen sein Ende als gutes Omen.
28. Januar, Donnerstag
    In der gleichen Nummer mit dem »Abschied von Bürgermeister Kalix« wird das neue Beamtengesetz des dritten Reiches publiziert: Früher seien die Beamten auf die Verfassung von Weimar vereidigt worden; jetzt »schafft das neue Gesetz ein Treueverhältnis zum Führer im echt deutschen Sinne der persönlichen Treue und Gefolgschaft«. Außerdem »bekundet das Gesetz die unlösbare Verbundenheit von Partei und Staat im Einbau der NSDAP, der Trägerin des deutschen Staatsgedankens, in das Gesetz«. 27. März, Sonnabend – morgen Ostern, wahrscheinlich weiße.
    Gestern wurde der Rousseau ganz fertig, druckfertig mit allen Anmerkungen, in allen 104 Seiten noch einmal durchgesehen, korrigiert, aufeinander abgestimmt. Nun kann er verpackt werden und modern. Es ist eine todtraurige Sache: mein bestes Buch und durchaus nutzlos, eine Donquichotterie. Wie sehr, das wurde mir gerade gestern noch einmal und verstärkt ad oculos demonstriert. Schon gleich 1919 begann die unsinnige Zurückdrängung des Französischen als Schulfach. Jetzt ist das kulturvernichtende Schulprogramm, die »Reform« des dritten Reiches, mit sofortiger Wirkung heraus. Alle höheren Schulen verlieren die Oberprima, und Französisch wird im wesentlichen wohl nur noch an etlichen Mädchenschulen gelehrt. Selbst wenn sich irgendwann einmal ein Verleger finden sollte (irreales Wenn!) – wer könnte mein Buch in Deutschland noch lesen? Es wimmelt von französischen Zitaten, und wollte ich sie alle ins Deutsche übertragen, so hingen die sämtlichen stilistischen Ausführungen in der Luft. Einerlei, ob ich an den Rousseau als eine Monographie denke oder als an einen Teil meiner viel zu langen Literaturgeschichte, er hat in beiden Fällen keine Aussicht, je ans Licht zu kommen. Wollte ich aber kürzen, den Rousseau oder das ganze 18. Jahrhundert, so bliebe ein Kompendium, wie es hundertmal von anderen schon geschrieben ist, und gerade mein Eigenstes ginge verloren. Es ist trostlos, und doch bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Arbeit fortzusetzen, nun schon das fünfte Jahr, denn seit 33 sitze ich ja nun schon daran.
    In politicis gebe ich allmählich die Hoffnung auf; Hitler ist doch wohl der Erwählte seines Volkes. Ich glaube nicht, daß er im geringsten schwankt, ich glaube allmählich wirklich, daß sein Regime noch Jahrzehnte halten kann. Es ist im deutschen Volk soviel Lethargie und soviel Unsittlichkeit und vor allem soviel Dummheit.
25. April, Sonntag
    Eine psychologisch verständliche, aber saudumme Wirkung, wie sie ähnlich schon durch Georgs Geldgeschenk im Oktober hervorgerufen wurde: Mitteilung des Finanzamts über »Neuordnung meiner Ruhebezüge« mit Rückwirkung vom 1. 4. 36. Ich erhalte monatlich 12 M mehr und 173 M nachgezahlt. Statt mich über die kleine Hilfe zu freuen, bin ich aufs peinlichste an die zahllosen Löcher erinnert, die ich damit nicht zustopfen kann (insbesondere an die verfallende Lebensversicherung). Dennoch: Eine kleine Hilfe ist es, mindestens kann nun die Terrasse über der Garage fertig werden, und vielleicht läßt sich auch der skandalöse Kotflügel flicken, und Eva erhält ersehnte Rosen für den Garten, und die Zahnarztrechnung, gegen deren Übermaß ich protestiert habe, drückt etwas weniger.
28. Juni, Montag
    Am Montag morgen, 21. Juni, waren wir bei den letzten Vorbereitungen zur Strausberg- und Nordseefahrt. Da erscheint um acht der Gemeindegärtner: Kontrolle, ob der Garten gesäubert. Ich zeige ihm, daß alles geschnitten ist; er greift irgendwo in den Boden: »Hier ist noch Unkraut – und hier und hier. Ich muß das melden, man wird Ihnen zwangsweise Arbeiter herschicken« – Forstgesetz etc. Ich: »Was verlangen Sie eigentlich?« – »Der Garten muß für ein paar hundert Mark von Fachgärtnern durchgearbeitet werden.« – Ich: »Wo soll ich das Geld hernehmen? Man hat mich doch aus dem Amt geworfen.« – Er, ein gutmütiger einfacher

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