Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
veröffentlicht. – In Spanien wütet der Bolschewismus, und bei uns ist Friede, Ordnung Gerechtigkeit, wahre Demokratie.
Am Sonntag waren wir wieder auf längerer Fahrt. So schlecht der Wagen zwei Tage zuvor gelaufen war, so gut hielt er sich diesmal.
9. Oktober, Freitag
Dies mag wohl der böseste Geburtstag meines Lebens sein.
Am Morgen teilte mir Marta mit, daß Wally, die nach schwerer Operation für gerettet galt – es hieß Gallenblasenentfernung, war aber doch wohl Krebs –, für verloren gelte; man hat sie aus der Klinik nach Haus befördert, Lotte, die Ärztin, aus der Schweiz zurückgerufen, wird sie zu Ende pflegen.
Am Vormittag auf der Bibliothek teilte man mir schonend mit, daß ich als Nichtarier den Lesesaal nicht mehr benutzen dürfe. Man wolle mir alles nach Hause oder in den Katalogsaal geben, aber für den Lesesaal sei ein offizielles Verbot erlassen.
10. Oktober, Sonnabend
Vor ein paar Tagen schon ein Glückwunsch von Ilse Klemperer. Sie geht, von ihrem nervenkranken Mann geschieden, mit ihrem Sohn nach Rio de Janeiro zu ihrem Bruder Kurt undnimmt die Asche ihres Vaters Felix mit. Er »soll hier nicht allein bleiben«. Sie kann auch sein EK I mitnehmen.
Ein Brief von Georg, der sich in Newtonville zur Ruhe gesetzt hat und zwischen den wachsenden Familien seiner Söhne hin- und herreist. Sie sind alle in guten Stellungen (als junge Leute und in praktischen Berufen) und alle dem Inferno germanico entronnen. Ich antwortete heut sehr ausführlich, schrieb auch vom Auto und wie ich es kaum würde behaupten können.
8. Dezember, Dienstag
Der Krieg scheint umschichtig einen Tag in unmittelbarer Nähe und den nächsten in weitester Ferne. Heut ist so ein nächster. Und morgen beginnt der Prozeß gegen den Gustloffmörder, den »Juden Frankfurter«, in Chur.
Am 1. Dezember wurde unser Telefon entfernt. Beinahe symbolische Handlung. Gänzlich verarmt und gänzlich vereinsamt.
Silvester 1936, Donnerstag
Weihnachten verbrachten wir ganz still. Wir fuhren nach Wilsdruff und kauften in der dortigen Gärtnerei auf Abruf im Frühjahr eine Tanne, nahmen uns auch ein Weihnachtsbäumchen mit Wurzelballen im Wagen mit, das heute zum letztenmal im Zimmer brennen und nachher ausgepflanzt werden soll. Leider macht der »Bock« in letzter Zeit wieder mehr Sorgen als Vergnügen; Armut kommt eben von der Povertät; er ist alt gekauft, erfordert nun immer wieder Reparaturen, und Georgs finanzielle Hilfe hat nicht lange vorgehalten. (Fraglich, ob wir im Januar die Iduna bezahlen können.)
Es kamen Weihnachtsbriefe von Isakowitz’, denen es passabel geht, von Georgs Ältestem, der vor der Naturalisation in England steht und zwei Söhne von sieben und neun Jahren in englischen Schulen hat, von Hatzfeld, der sich wie ich vergeblich um einen Auslandsposten bemüht – wer nimmt einen Romanisten aus Deutschland?
Die fünfzehnjährige Tochter des kommunistischen ZimmermannsLange kam aus dem Arbeitslager, dem Nationalsozialismus gewonnen, den Eltern entfremdet. Die Führerin versammelte die Mädchengruppe auf dem Bahnsteig und hielt ihnen eine beschwörende Abschiedsrede: »Ihr seid selbständige Menschen, handelt nach dem, was ihr von mir gehört habt, laßt euch durch eure Eltern nicht beirren!« Als Mutter Lange der Tochter ins Gewissen reden wollte, erhielt sie zur Antwort: »Du beleidigst meine Führerin!« Ich denke mir diesen Fall verhunderttausendfacht und bin sehr bedrückt.
Das Jahresrésumé kann ich sehr kurz fassen.
Auto-Freuden und Auto-Leiden, im Januar die Prüfung, im März der Wagen, 6000 km gefahren.
Ständige Verarmung und steigende Finanznot; im Oktober durch Georg aus schwerster Verlegenheit gerettet, aber nur momentan gerettet. Ständige Vereinsamung. Gar keine Hoffnung mehr auf einen Auslandsposten, sehr geringe – ich will nicht sagen gar keine, das wechselt von Stunde zu Stunde –, sehr geringe auf das Ende des dritten Reichs.
Den ersten Band des 18. Jahrhunderts ganz fertiggestellt (und nicht bei dem Breslauer Verlag untergebracht); seit dem Mai Rousseau (und noch immer nicht fertig).
Im Oktober auf ein paar Stunden zu Wallys Einäscherung in Berlin.
1937
24. Januar, Sonntag
Es wird ringsum gestorben. In diesen Tagen: zuerst Prätorius, der kleine biedere Baumeister-Handwerker mit der unausstehlichen Frau, der unser Haus gebaut hat und in besseren Zeiten zu Ende bauen sollte. Er war alt, solange wir ihn kannten, aber bis in den letzten Sommer rüstig und unverwüstlich. Dann wurde
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