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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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bestimmt auch von dem durchaus humanen Lehrer nur scherzend gesprochen wurde), Kuhfahl, der Mathematiker,habe zu der verkleinerten Klasse gesagt: »Heut sind wir unter uns .« Das Wort nahm in der Erinnerung eine geradezu grausige Bedeutung für mich an: Es bestätigt mir den Anspruch der NSDAP, die wahre Meinung des deutschen Volkes auszudrükken. Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die deutsche Volksseele verkörpert, daß er wirklich »Deutschland« bedeutet und daß er sich deshalb halten und zu Recht halten wird. Womit ich denn nicht nur äußerlich vaterlandslos geworden bin. Und auch wenn die Regierung einmal wechseln sollte: mein innerliches Zugehörigkeitsgefühl ist hin.
    In der Zeitung heißt die betreffende Beilage nicht mehr »Das Auto« oder »Der Kraftverkehr« oder so, sondern »Der Kraftverkehr im dritten Reich«. Überall muß das Hakenkreuz deutlich sein. Alles ist zu ihm und nur zu ihm in Beziehung zu setzen.
27. Oktober, Dienstag gegen Abend
    In den letzten Wochen war und ist die Arbeit besonders verzögert durch Evas nicht mehr ganz so schlimmen, aber genügend elenden Zustand. Ich habe manchmal buchstäblich Tag und Nacht vorgelesen (einmal des Nachts von zwei bis halb fünf), ich lese täglich vormittags an ihrem Bett vor: Das nimmt nicht nur die Stunden der Lektüre selber, sondern wirkt darüber hinaus schwer ermüdend und lähmend. Aber ich tu es nicht eigentlich ungern, der Gedanke verläßt mich nicht mehr, daß es vollkommen gleichgültig ist, womit ich den Rest meines Lebens hinbringe: Ich glaube an keine politische Änderung mehr, und ich glaube auch nicht, daß eine Änderung mir Hilfe bringen würde. Weder in meinen Verhältnissen noch in meinen Gefühlen. – Verachtung und Ekel und tiefstes Mißtrauen können mich Deutschland gegenüber nie mehr verlassen. Und ich bin doch bis 1933 so überzeugt von meinem Deutschtum gewesen.
    Am 18. Oktober ist Georgs Frau Maria auf der Europareise in Meran gestorben, wohl kaum älter als Anfang der Sechzig. Es ist sehr scheußlich, wie kalt mich Todesfälle lassen – und wie schöne Kondolenzbriefe ich schreibe. Ein Brief von Georg bedeutetfür mich nur noch die Frage: wird eine Geldankündigung darin sein?
28. Dezember, Dienstag
    Am 24. kam nach mehreren Frosttagen plötzlich Tauwetter. So fuhren wir wie im Vorjahr nach Wilsdruff, einen lebenden Baum kaufen, der dann hier eingesetzt werden soll, ebenso wie der vorjährige. Um zwölf in der Gärtnerei keine Seele, wir saßen bis eins im »Weißen Adler«, um eins wieder niemand in der Gärtnerei. Ich holte den uns bekannten, inzwischen pensionierten alten Obergärtner Weber, er grub uns wirklich einen Baum aus. So hatten wir abends ein ganz erträgliches Weihnachten; Eva hat ein Fenster für den Eßkeller bekommen, wir tranken ein kleines Fläschchen Schnaps und fühlten uns ganz passabel. Am ersten Feiertag bei ununterbrochen strömendem Regen zu Haus, jeder bei seiner Arbeit, Eva malt das Musikzimmer aus, ich korrigiere den Abschnitt »Antike Elemente«. Abends den wildesten Wallace vorgelesen, den »Rächer« (der irrsinnige Guillotinenmörder). Am zweiten Feiertag die schöne Straße links der Elbe nach Meißen gefahren.
    Ich hatte diese Tage sehr gefürchtet, denn es geht uns sehr schlecht. Die Geldsorgen sind wieder besonders drückend, wir rechnen mit dem Pfennig, wir können die Lebensversicherung nicht mehr halten. Und die Hoffnung auf politische Änderung ist kaum noch Hoffnung.
    Es gab uns einen besonderen Stoß, daß nun auch Gerstle-Salzburgs auswandern. Die Fabrik »Webers Kaffeegewürz« wurde an Kathreiner verkauft. Gerstle hat sie von seinem Vater geerbt und 28 Jahre lang geleitet, er hat den Krieg als Offizier mitgemacht. Aus dem aufgelösten Haushalt bekamen wir viele Blumen (wie von Blumenfelds und Isakowitz’), darunter einen ungeheuren Gummibaum. Bücher hätte ich zu Hunderten haben können, ich nahm nicht viele, es modert ja bei mir schon so vielerlei, teils in Kisten, teils auch auf den Regalen, da ja mit der Bedienung die gründliche Reinigung fehlt. Ein hübscher alter Windhund,den Gerstles selber schon von Auswanderern übernommen hatten, wird vergiftet. Gerstles bleiben wohl auch nach dem ungeheueren Verlust der Auflösung, »Fluchtsteuer« etc., reich. Sie gehen nach England »auf dem Umweg über eine Weltreise«.
    Ich vermag mich zum Tagebuch nur noch ebenso schwer zu zwingen wie zu Privatkorrespondenz. Aber oft überfällt mich irgendeine Szene aus

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