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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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der geplanten Vita. Aber immer meine ich, vor allem sei dem unseligen XVIII ième Treue zu halten. Und dabei werden die Herzbeschwerden beim Gehen täglich ärger.
    Ein Jahresrésumé 37 ist wohl unnötig. Die famosen 95 Seiten des Rousseaubandes; die Sommerfahrt nach Berlin, zur See und ins Riesengebirge; das fürchterliche Stillstehen der Zeit, das hoffnungslose Vegetieren.

1938
31. Januar, Montag abend
    Von zwei Seiten, von Berthold Meyerhof aus Berlin, von Frau Lehmann aus Dresden, hörte ich das gleiche, verbürgt und nicht etwa als Witz: Bei Prüfungen in Schulen oder bei Lehrlingen wird die weltanschauliche »Fallenfrage« gestellt: »Was kommt nach dem dritten Reich?« Die Antwort muß sein: »Nichts, es ist das ewige Deutschland.« Es ist also in den zwei mir berichteten Fällen vorgekommen, daß die armen Jungen ganz unschuldig antworteten: »Das vierte Reich.« Beide fielen ohne Berücksichtigung ihrer eigentlichen Leistung glatt durch.
    Und jeden Tag von neuem und jeden Tag stärker bewegt mich die triviale Antithese: So Ungeheures wird geschaffen, Radio, Flugzeug, Tonfilm, und die irrsinnigste Dummheit, Primitivität und Bestialität sind nicht auszurotten – alles Erfinden läuft auf Mord und Krieg hinaus. Entsetzliche Geldknappheit, buchstäbliche Abgerissenheit (meine Joppe löst sich auf, meine Handschuhe sind nur noch schwach zusammenhängende Löcher, meine Strümpfe ebenso) mehr als das halbe Monatsgeld wird gleich am Ersten an laufende Rechnungen gesetzt. Trotzdem in den letzten Tagen nach sehr langer Pause zweimal im Kino. Der Opernfilm Gigli – Cebotari »Mutterlied« sehr rührselig, ganz hübsch, bißchen öde. Aber gestern nachmittag in der »Schauburg« weit draußen in der Königsbrücker Straße (zugleich eine unserer ganz seltenen Spazierfahrten, übrigens hatte der Bock auf der Fahrt zu Frau Schaps ernstlich gestreikt, wir mußten ihn auf der Tankstelle stehenlassen und mit der Elektrischen zu spät kommen) – gestern also die »Habanera« mit Zarah Leander, geradezu erschütternd gut.
23. Februar, Mittwoch
    Entsetzliche Trostlosigkeit der Lage. Die Reichstagsrede Hitlers wie eine Kriegsdrohung (verstärktes Heer), über seinen Militärstaatsstreich verlor er kein Wort; in Österreich herrscht der Nationalsozialismus, und nicht nur, daß alles still bleibt, sondern die englische Politik wird herumgeworfen, Eden geht, Chamberlain verhandelt mit den triumphierenden Italienern, kündigt Verhandlungen mit Deutschland an, tritt den Völkerbund in den Hintern und bekommt für diese prouesse im Unterhaus 330 Stimmen gegen 168. Aber manchmal sage ich mir: Was würde für mich anders im vierten Reich, wie immer es beschaffen wäre? Wahrscheinlich würde die ganz große Einsamkeit erst dann für mich beginnen. Denn ich könnte nie wieder jemandem in Deutschland trauen, nie wieder mich unbefangen als Deutscher fühlen. Unendlich gern zöge ich ins Ausland, am liebsten nach USA, wo ich mit Selbstverständlichkeit Fremder wäre. Es ist unmöglich; ich bin für den Rest meines Lebens an dieses Land und dieses Haus gebunden. Neulich ein Werbebericht der »Wach- und Schließgesellschaft«. Aufzählung ihrer Taten im letzten Jahr: x Diebstähle verhindert, x Brände verhindert, x Straftaten zur Anzeige gebracht, eine Rassenschändung.
20. März, Sonntag
    Die letzten Wochen sind die bisher trostlosesten unseres Lebens.
    Der ungeheure Gewaltakt der Österreichannexion, der ungeheure Machtzuwachs nach außen und innen, die wehrlos zitternde Angst Englands, Frankreichs usw. Wir werden das Ende des dritten Reichs nicht erleben. Seit acht Tagen wehen die Fahnen, seit gestern klebt an jedem Pfeiler unseres Zauns ein breiter gelber Zettel mit Davidstern: Jude . Warnung vor der fahnenlosen Pestbaracke. »Der Stürmer« hat seinen üblichen Ritualmord ausgegraben; ich würde mich wahrhaftig nicht wundern, wenn ich nächstens eine Kinderleiche im Garten fände.
30. März, Mittwoch abend
    Legendenbildung mitten im 20. Jahrhundert. Der Kaufmann Vogel erzählt mir allen Ernstes, und ernsthaft entsetzt, was »bestimmt wahr und verbürgt« sei und heimlich kursiere, weil die Verbreitung mit Gefängnis bedroht sei: In Berlin bringe ein Mann seine Frau zur Entbindung in die Klinik. Über ihrem Bett hängt ein Christusbild. Der Mann: »Schwester, das Bild muß weg, mein Kind soll nicht als erstes den Judenjungen sehen.« Die Schwester: Sie könne von sich aus nichts tun, sie werde Meldung machen. Der Mann geht. Am

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