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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Mitteleuropa. – Seit einigen Tagen tut sich nun auch in Italien Rassenkunde und Antisemitismus offiziell auf.
10. August, Mittwoch
    Seit wohl drei Wochen anhaltend zermürbende feuchte Hitze. Seit Wochen und bei unabsehbarem Ende Geldnot, die alles erschwert. Seit Wochen wieder verschärfte Judenhetze und immer neue Gewaltmaßnahmen. Vom 1. 10. ab ist allen jüdischenÄrzten die Approbation entzogen, sie dürfen auch nicht als »Heilkundige« tätig sein; sie können also verhungern. Vom selben Zeitpunkt an wird eine Ausweiskarte für Juden eingeführt. Damit wird man sicher in keinem Hotel aufgenommen. Also gefangen. Seit Wochen hat Italien die Rassen- und Judenhetze genau nach deutschem Muster aufgenommen. – Und in der Außenpolitik alles unverändert. Überall äußerste Spannung und überall Kriegsangst.
24. August, Mittwoch
    Wie schön wäre Deutschland, wenn man sich noch als Deutscher fühlen und mit Stolz als Deutscher fühlen könnte. (Vor fünf Minuten habe ich das eben veröffentlichte Gesetz über die jüdischen Vornamen gelesen. Es wäre zum Lachen, wenn man nicht den Verstand darüber verlieren könnte. Die neuen Namen sind zum überwiegenden Teil nicht alttestamentarische, sondern komisch klingende jiddische oder Ghettonamen – Richtung Franzos, Kompert. Ich selber habe also den Standesämtern Landsberg und Berlin sowie der Gemeinde Dölzschen zu melden, daß ich Victor-Israel heiße, und habe Geschäftsbriefe derart zu unterzeichnen. Ob für Eva Eva-Sara in Frage kommt, muß ich noch feststellen.)
    Ich nehme mir jetzt so selten ein paar Stunden Tagebuchzeit, daß dann alles zusammengehäuft und so knapp als möglich aufs Papier muß.
    Morgen die Maschinenreinschrift des Beaumarchais. Ich arbeite am Dix-huitième weiter aus reiner Verbohrtheit und ohne alle Hoffnung und Illusion. Ich, Victor Israel Klemperer.
    Die Nürnberger Synagoge, von der ich unter dem 27. Juli berichte, ist in einer »Weihestunde« unter Streichers Leitung vor ein paar Wochen feierlich demoliert worden.
    Ich höre seit Wochen nichts von Marta, von Grete, von Sußmann – es ist eine beängstigende Stille um mich.
20. September, Dienstag
    Wieder wird das dritte Reich siegen – durch Bluff oder wirklich durch Gewalt, die so übermächtig ist, daß sie nicht erst zu kämpfen braucht? Chamberlain fliegt morgen das zweitemal zu Hitler. England und Frankreich bleiben ruhig, in Dresden steht das sudetendeutsche »Freikorps« fast schon einmarschbereit. Und das Volk hier ist überzeugt von der alleinigen Schuld der Tschechen – neuestes Schlagwort: der Hussiten – und von der Friedensliebe, Gerechtigkeit und reinen Befreierabsicht Hitlers.
    Nicht daran denken, darüber hinwegleben, vergraben in das ganz Private! Schöner Vorsatz, aber so schwer zu befolgen.
2. Oktober, Sonntag
    Noch einmal höchste Erregung der Hoffnung auf ein Ende. Godesberg schien erfolglos, Ultimatum an Tschechei zum 1. Oktober, Kriegsspannung in Frankreich und England. Wir fuhren am 30. 9. mittags zum Zahnarzt. Auf der Elbbrücke Maschinengewehre. Ich glaubte: Heute abend der Krieg. Vielleicht unser Tod in einem Pogrom – aber das Ende. Ich setzte Eva bei Eichler ab und fuhr zu Besorgungen zum »Bismarck«, meinem üblichen Parkplatz. Ein Herr rief mich an. Aron. »Wir haben Sie neulich im Wagen gesehen, wir glaubten Sie längst fort, Sie stehen weder im Telefon- noch Adreßbuch. Meine Frau und Frau Neumann möchten Sie einmal aufsuchen.« (???) Dann natürlich Politik. Ich: Nun käme wohl das Ende mit Schrecken, für uns und sie . Er: Ob ich denn kein Radio hätte? –? – Auf ein zweites drohendes Telegramm Roosevelts, auf völlige Mobilisation Englands und Frankreichs habe er nachgegeben. Heute um drei die vier in München. Die Tschechei bleibe bestehen, Deutschland bekomme das Sudentenland, wahrscheinlich eine Kolonie dazu. – Alles weitere wird in den Geschichtsbüchern stehen. Mein Tagebuch hier interessiert nur dies: Für das Volk in der »Aufmachung« der deutschen Presse ist es natürlich der absolute Erfolg des Friedensfürsten und genialen Diplomaten Hitler. Und wirklich ist es ja auch ein unausdenkbar ungeheurer Erfolg.Kein Schuß fällt, und seit gestern marschieren die Truppen ein. Man wechselt Friedens- und Freundschaftswünsche mit England und Frankreich, Rußland ist geduckt und still, eine Null. Hitler wird noch übermäßiger gefeiert als in der Österreichsache. Gestrige Schlagzeile der »Dresdener NN«: Das Volk der achtzig Millionen

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