Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Abend telegraphiert ihm der Arzt: »Sie haben einen Sohn. Das Bild brauchte nicht entfernt zu werden, das Kind ist blind.«
10. April, Sonntag nachmittag
Heute die »Wahl«, der »Tag des großdeutschen Reiches«. Gestern abend Glockengeläut eine Stunde lang, hineingemischt ein Rauschen, offenbar das radioübertragene Läuten der Wiener oder Berliner Glocken. Dazu das Rauchrot der Fackelzüge über der Stadt, illuminierte Fenster selbst hier oben in unserer Einsamkeit.
Seit Tagen tritt das Gottesgnadentum immer deutlicher hervor. In der Zeitung immer wieder: Er ist das Werkzeug der Vorsehung – die Hand muß verdorren, die Nein schreibt – die heilige Wahl … Überall große Faksimiles der bischöflichen Zustimmung in Österreich. Wir denken, er wird sich zum Kaiser krönen lassen. Als Gesalbter des Herrn, christlich.
3. Mai, Dienstag
Neulich fiel mir ein: Auch das beste Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist niemals ein ganz ehrliches. Fremdheit bleibt immer. Der Junge ist liebevoll nachsichtig gegen das rückständige Alter, der Alte liebevoll nachsichtig gegen unfertige Jugend – im letzten betrügt man sich, verheimlicht sich das Entscheidende. Wirklich verstehen kann ich meinen Vater erst jetzt, wo ich selber alt bin und ihn historisch aus dieser Zeit heraus beurteile. Dieeben nicht die meine war. Denn die Zeit eines Menschen ist seine Entwicklungszeit. Ich verstehe natürlich auch nicht die jungen Menschen von heute.
23. Mai, Montag
Am Donnerstag abend erschien Frau Lehmann. Sie war zum Amtswalter bestellt worden: Es sei bekannt, daß sie bei einem jüdischen Professor und einem jüdischen Rechtsanwalt Aufwärterin sei. – Sie sei über 46, also berechtigt. – »Gewiß, aber Ihr Sohn kommt um seine Beförderung im Arbeitsdienst, und Ihre Tochter – Sie sollen das junge Mädchen nach Dölzschen mitgenommen haben! – um ihre Stellung, wenn Sie diese Arbeit nicht aufgeben.« – Also war die Frau von drei Arbeitsstellen zwei los, und wir sind allein. Am Freitag wuschen wir fast drei Stunden ab, und unsere Reisepläne waren begraben, da Haus und Kater nicht allein sein können. Frau Lehmann war elf Jahre in unserm Dienst – Vertrauensposten.
Eva dickköpfig wie immer. Es wird weiter gepflanzt, geplant, gehofft.
Inzwischen rückt auch die große Historie langsam weiter; die tschechische Angelegenheit ist der Explosion nahe. Deutschland wird einmarschieren, das scheint gewiß, und wahrscheinlich wird sich der österreichische Erfolg wiederholen.
25. Mai, Mittwoch
Der Tschecheikonflikt geht weiter, alle Tage werden wir provoziert, sind wir friedliebend, hetzt und lügt alle Welt gegen uns, insbesondere England. Ich warte seit fünf Jahren – aber da die deutsche Bluffrechnung bis jetzt so oft geklappt hat, wird sie ja wohl auch jetzt wieder stimmen. Neulich der Gärtner Heckmann und heute der Kaufmann Vogel ganz übereinstimmend: »Ich weiß gar nicht, was vorgeht, ich lese keine Zeitung.« Die Leute sind vollkommen abgestumpft und gleichgültig. Vogel sagte noch: »Es kommt mir immer alles wie Kino vor.« Man nimmt eben alles als theatralische Mache, nimmt nichts ernst und wirdsehr verwundert sein, wenn einmal aus dem Theater blutige Wirklichkeit wird.
12. Juli, Dienstag, Evas Geburtstag
Es fällt mir sehr schwer, die nötige Festfreude zu zeigen: Der Tag bringt das Elend unserer Situation allzu stark in Erinnerung, und die Zähigkeit des Hoffens, die ich gestern im Geburtstagsbrief für Blumenfelds postulierte, fehlt mir sehr. Lissy Meyerhof schreibt, Berthold habe in USA Arbeit gefunden; Frau Schaps schreibt von der Ansiedlung ihrer Kinder in London und von aufgenommener Verbindung mit dem Zahnarzt Isakowitz: All diese Leute haben sich ein neues Leben gezimmert – und mir ist es nicht geglückt, wir sind in Schmach und Enge sitzengeblieben, einigermaßen begraben bei lebendigem Leibe, sozusagen bis an den Hals eingegraben und auf die letzten Schaufeln von Tag zu Tag wartend.
Aber der Katzenjammer und nun gar seine Tagebuch-Fixierung sind Zeitvergeudung.
27. Juli, Mittwoch
Tiefstandtage. Ich finde mich lächerlich, daß ich immer noch Hoffnung auf Umschwung hege. Sie sitzen so fest im Sattel, in Deutschland ist man zufrieden, im Ausland duckt man sich. Jetzt greift England in Tschechei zugunsten der Sudetendeutschen ein. Der »Stürmer« trägt heute die Überschrift: »Synagogen sind Räuberhöhlen.« Darunter: »Die Schande von Nürnberg« und das Bild der dortigen Synagoge. 1938 in
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