Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Im Längsraum neben unserm Verpacksaal ist ein mehr fabrikmäßiger Raum. Die Kräutersorten, die gemischt werden, stehen in großen Bottichen nebeneinander; ihnen gegenüber die Mischtrommel, kaum anders, als man sie beim Zementieren sieht. Hier arbeitet bei Tage eine fast ganz weibliche arische Belegschaft unter einem arischen Monteur (es sind wohl dieselben Frauen, die uns in einem Vor- und Küchenraum bekochen), hier nachts eine jüdische Gruppe. Ob man sich zur Nachtschicht melden soll oder nicht, ist unerschöpfliches Diskussionsthema. Die einen: Man muß sich darum reißen: längere Pausen, 80 Pf Stundenlohn, Langarbeiterzulage (Brot und Fleisch) »auch« für Juden »vorgesehen« und beantragt; die andern: unter keinen Umständen: furchtbar staubig, furchtbar anstrengend. Ich habe mich dazu gemeldet, um es kennenzulernen, und weil es mir ein bißchen romantischer vorkommt und darum vielleicht schneller vorübergeht als die Tagschicht, und weil es mir vielleicht doch etwas mehr Zeit übrigläßt als die Tagschicht. – Weil am Vormittag von sechs bis zwei in »unserem Saal« Arierinnen arbeiten und weil auch der Mischsaal davon mitbedient wird (und weil man sich human gegen uns verhält), so ist das Radio im Gang, manchmal den ganzen Nachmittag, manchmal nurin den Abendstunden, manchmal zu leise und vom Arbeitslärm übertönt, manchmal als ewiges Geräusch überhört, manchmal von der halben Belegschaft abgelehnt und dann vom Obmann abgestellt – im ganzen doch über die Zeit weghelfend. Viel Musik aus Wien, aus Berlin, von da- und dorther. Ein paar italienische Lieder, ein Stück »Fledermaus«, ein Stück »Cavalleria« machten mir Vergnügen. Der Heeresbericht; Goebbels’ Rede zum Führergeburtstag (sehr bedrückt, nur immer das Vertrauen zum Führer, das den Endsieg sichere), ein paar Brocken aus einer Rede des »Reichsgesundheitsführers« (Wille zum Durchhalten, Nation usw. – da stellte man ab, teils weil es langweilte, teils weil man Angst hat, Nationalsozialistisches zu hören – es kann ja in jedem Augenblick Gestapo hereinkommen). Alles in allem vergeht mir beim Radio, so rasch ich dagegen abstumpfe und ertaube, die Zeit doch ein bißchen schneller als im stummen Ablauf, und manchmal schnappt man auch ein wenig Zeitungsersatz auf.
26. April, Ostermontag vormittag
Ich sagte am Donnerstag zu Conradi, er lachte noch darüber: »Wir sind wie in einem Cholera-Hospital, ohne geimpft zu sein.« Ich werde die Angst nicht mehr los, übertäube sie nur.
Mittags
Zu Hitlers Geburtstag ist, ich glaube, ausgerechnet im Protektorat, eine Sondermarke erschienen, und einige Postämter haben ihr einen Sonderstempel gegeben: »Wir schützen Europa vor dem Bolschewismus.« (Ich weiß nicht, ob ich genau zitiere. Ich sah das schon vor einer Woche etwa in der Zeitung.) Das Thema Antibolschewismus herrscht mit fürchterlicher Heuchelei. Eine der letzten »Reich«-Nummern ist ganz davon beherrscht. Ich werde versuchen, darauf zurückzukommen. Ich wage es nicht mehr, Zeitungen hier oben aufzubewahren. Ich habe heute einen Stoß in den Keller gebracht. Ich werde Lewinsky bitten, mir die »Frankfurter« nicht mehr zu bringen. Meine Zeit ist jetzt so unendlich knapp geworden, daß ich ja doch nur das wenigste lesen und verwerten kann.
Abend
Steinitz brachte die Nachricht, daß Conradi bereits tot sei – Jacobi war zur Empfangnahme der Leiche ins PPD beordert worden. Es kann mich jede Stunde treffen, ich werde das Grauen nicht mehr los.
29. April, Donnerstag nachmittag halb sechs
Von dem gestrigen Musiknachmittag hole ich nach: Glaser spielte mit Eva eine Suite alter Tänze für Klavier und Geige, die sie vor zwanzig Jahren geschrieben. – Frau Kreisler erzählte, wie sie ein Postpaket mit Adresse dieser Tage auf der Straße fand, es kam etwas Rotes daraus hervor – Fleisch! Sie gab das Paket nach Gewissenskampf ab. Ein kleinbürgerlicher Mann hatte es vom Rad verloren, fiel aus Verzweiflung in Beglücktheit. Inhalt ein riesiges Kaninchen. Frau Kreisler erhielt als Finderlohn ein Bein und ein Stück Leber. Sie sagte dem Mann: »Ich bin nichtarisch – Sie sehen, auch ein Nichtarier kann ehrlich sein.« Er: »Was ist denn das, ›nichtarisch‹?« (Nach 10 Jahren NS-Propaganda!) Nach der Erklärung: »Das ist mir doch ganz egal!«
1. Mai, Sonnabend vormittag
Das Experiment der Nachtschicht ist beendet, hoffentlich für immer, bestimmt für ziemlich lange; es verwüstet meine Augen, zerreißt meinen Tag. Die dritte
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