Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Nacht glich im wesentlichen den beiden andern. Die Stimmung war etwas freundlicher, da alle einen neuen Toten – diesmal wirklich betrauerten, ohne böse Nachrede und ohne unmittelbare Angst für die eigene Person. Der Maler Gimpel war allen sympathisch, und er ist nicht ganz ein Opfer der Gestapo; er stand vor der Erblindung, er hing wohl nicht mehr fest am Leben, und als er nun seine Wohnung aufgeben sollte und unter dem Druck der Mordfälle in seiner nächsten Nähe – Conradi saß bei Schlüter neben ihm, sie plauderten den ganzen Tag – öffnete er in Abwesenheit seiner arischen Frau den Gashahn.
4. Mai, Dienstag vormittag
Die erste feiertagslose Vollwoche der Tagesschicht hat begonnen. Jede [Schicht] hat sechshundert Minuten. Der Saal ist leerer geworden – zwei Leute tot, einer abkommandiert – an die Stelle der Thürmer tüten sind richtige Schlüter kartons getreten, sonst alles wie vor der Nachtwoche. Ganz doch nicht. Das Radio wird nicht eingestellt – man erwartet Betriebsbesichtigung durch Gestapo, da wäre Radio im Judensaal Todsünde. Erst nach neun Uhr abends bringt es der arische Meister in Gang. Der darf. Stimmung bedrückt. Kornblum, ein alter Invalide und Rentenempfänger, ist in der Tittmannstraße von einem Gestapomann angehalten worden. »Was gehst du hier spazieren? Mit welcher Bahn bist du gekommen? …« Es ist ihm sonst nichts geschehen. Aber so fing es ja auch bei anderen an. Wer weiß, was noch kommt. – »Wenn sie mich bestellen – ich gehe erst gar nicht hin …« Und auch wenn diesmal gar nichts erfolgt – wir sind doch umlauert. – Manchmal – selten – in diesen acht Stunden Gespräche der andern, ich höre zu. Alle Übriggebliebenen sind Kaufleute, die meisten hatten Läden, Konfektion, Wäsche etc. Sie wissen voneinander, wo sie eingekauft haben, wer »Geld gemacht« hat. Für die Zukunft sind sie alle hoffnungslos. »In Deutschland wird es für uns nie wieder gut; der Antisemitismus war immer da, ist jetzt zu tief eingeprägt.«
10. Mai, Montag früh vor sieben Uhr
Das Problem Elsa Kreidl. Zu Lebzeiten ihres Mannes hielten wir sie für kalt, antisemitisch, nazistisch. Dann, nach Kreidls Tod, wurde sie uns sympathischer, benahm sich gut gegen Ida Kreidl, gegen uns, es ergab sich fast eine Freundschaft, und allerhand Gefälligkeiten wurden uns erwiesen. Hierher getraute sie sich nicht (was ihr nicht zu verdenken), aber Eva war ein paarmal bei ihr zum Tee, die beiden treffen sich meist Sonnabend mittag zum Essen in der Stadt, Elsa Kreidl leiht Bücher, schenkt Kartoffel- und Kaffeemarken, das Verhältnis ist ein gutes. Jetzt – man hatte sich drei Wochen nicht gesehen – erzählt Eva: Elsa Kreidl sprichtin großen Tönen von der Güte ihres Mieters, eines Kriminalrats bei der Gestapo. Der Mann sei wirklich gut, aber bearbeite gerade die Judenfälle, er lasse keine Übergriffe seiner Beamten zu! – Weiß Frau Kreidl wirklich nicht, daß man auf solchen Posten nur als Bewährter kommt? Weiß sie nicht, welche Grausamkeiten geschehen? Weiß sie nicht, daß sie unmittelbar mit den Mördern ihres Mannes paktiert? Eva erzählt, die Frau lebe in behaglicher Witwenschaft, sie brauche offenbar mit dem Gelde nicht übermäßig hauszuhalten. Hat die Frau in ihrem jämmerlichen bißchen Wohlleben alles vergessen? Ist sie gedankenlos, dumm, schlecht? – Eva sagt: Sie ist nach wie vor nett und gefällig, und sie selber, Eva, sei im Punkte »Menschen« sehr bescheiden geworden und habe das Sichwundern verlernt. Und ich meine ganz verhärtet: Wenn uns dieser Umgang Kartoffeln und Kaffee einträgt … Aber verächtlich ist die Angelegenheit doch. Und problematisch.
11. Mai, Dienstag früh
Im Werk sind gestern für die Nachtarbeiter »Langarbeiterzulagen« eingeführt. Das bedeutet, daß man für eine Woche 200 Gramm Fleisch erhält und damit also die nötigen Marken, um vier Wochen am Kantinenessen zu partizipieren. Welches Dilemma für mich! Soll ich die Nächte für das Essen oder das Essen für die Nächte opfern? Es ist eine jämmerliche Alternative. Aber was bedeutet das alles gegen das ewige Angstgefühl dem schleichenden Mord gegenüber. Dieses Gefühl, die nackte Todesangst vor dem Erwürgtwerden im Dunkeln, das muß ich im Curriculum einmal festhalten; das ist auch das Besondere dieses letzten Jahres: Man rechnet nicht mehr mit Gefängnis oder mit Prügeln, sondern glattweg bei allem und jedem mit dem Tod. –
Eva will die Blätter heute nach P. schaffen. Seit wir Geld
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