Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
Pappmache eingesetzt worden. Keiner von beiden wirkte sehr überzeugend. Der ganze Apparat war mit dickem, gesprungenem Firnislack bedeckt.
    Mehr denn je war Harper geneigt, zu glauben, daß die Gesetze der Realität hier irgendwie aufgehoben waren, in Schach gehalten, solange er sich in der Stadt befand, durch die Gesetze der Förmlichkeit und des Verfahrens, handgeschriebene Gesetze. Er hatte nie in dieser Welt gelebt, er war zu jung.
    Der Vorsitzende sprang von seinem Stuhl auf und hüpfte mit gefährlich wackelndem Kopf auf den Zehenspitzen um den Tisch. Er faßte entschieden nach Harpers Hand, schüttelte sie heftig und rief:
    »Ich bin Vorsitzender Sitzungssaal …!« Und als der verwunderte Krüppel schwieg und sich fragte, wie diese Phantasie die grimmige Realität draußen überdauern konnte: »Der Administrator! Gehen Sie, Grocott, bitte.«
    Personal neigte den Kopf bedenklich und entfernte sich.
    »Also.« Sitzungssaal wies Harper den Sessel an, der dem Tisch gegenüberstand. »Möchten Sie etwas trinken, alter Junge?« Harper warf einen Blick auf die schmierige Flasche. Er schüttelte den Kopf.
    »Warum bin ich hier?« fragte er.
    Sitzungssaal ließ sich auf der Tischkante nieder. Er bewegte sich sehr langsam und vorsichtig, die Hand am Kopf. Seine Wade streifte Harpers Knie, und er kratzte an den Schnüren unter seiner Achselhöhle. Er nahm ein Durchschlagpapier zur Hand und betrachtete es nachdenklich.
    »Nun also.« Er legte die Hand auf Harpers Schulter. »Wir werden alle nicht jünger. Dieses Haus zu verwalten, den Überblick über die Mehrerträge zu behalten, das ist eine Aufgabe für (wie soll ich es ausdrücken?), nun, für einen fähigen Mann.«
    Er griff wieder nach dem Durchschlagpapier. »Und das hier« – er deutete mit sehr sauberem Fingernagel auf das gekritzelte Arm, um Himmels willen – »das ist vielversprechend. Die richtige Begabung.« Mit einer schnellen, zuckenden Bewegung legte er seine Finger in Harpers Hand. Tätschelte sie nachdrücklich. »Wir könnten etwas zusammen machen, alter Junge. Eh? Ich nehme an, Sie wollen vorwärtskommen. Wir könnten in kurzer Zeit eine hübsche Stelle für Sie einrichten, etwas wie die von Personal. Ganz hübsch. Nun? Wie soll ich es ausdrücken? Meine Erfahrung und Ihre Energie?«
    Plötzlich stand die ganze klägliche Sache klar vor Harpers Augen: eine abartige, dunkle, traurige Scharade, die von alten Männern zu ihrem Vergnügen aufgeführt wurde. Das Angebot ließ ihn schaudern. Er versuchte, seine Hand zu lösen, aber Sitzungssaals Finger hatten sie irgendwie umklammert und hielten sie beide in dem Truggebilde gefangen. Und das war noch nicht alles.
    »Hören Sie«, drängte er, »ich will einfach nicht …«
    Sitzungssaal löste seine Hand und legte sie beruhigend auf das Knie des Krüppels. »Wer wird es denn überstürzen? Wir haben …« Er begann, das Knie sanft zu streicheln, sein Kopf schwankte von einer Seite zur anderen.
    »Jeder junge Mann möchte vorwärtskommen«, murmelte er, »denken Sie darüber nach.«
    »Nein«, sagte Harper. Er hatte einen Fehler gemacht. Er glaubte, ein Paar glitzernde Augen durch die zitternden Nasenflügel der riesigen schartigen Nase zu sehen. Die Hand drückte seinen Schenkel.
    »Nein!« schrie er.
    Er warf sich nach hinten, sein Stuhl fiel um. Sitzungssaal warf sich auf ihn. Die Augen hinter seiner Maske glitzerten auf ihn herunter, Sitzungssaal kicherte. Harper stieß kraftlos den zuckenden Körper von sich.
    »Hau ab!« schrie er. Er schlug nach der Maske. Die Nase brach ab, und er konnte eine weiße Augenbraue und eine rosafarbene Stirn erkennen, bevor Sitzungssaal heulend die Hand vor das dreieckige Loch schlug, als sei seine eigene Haut verletzt worden.
    Er wand sich unter ihm hervor. Sitzungssaal schluchzte. Harper schlug ihm mit der Faust in den Rücken, trat wild nach der heulenden Maske und rannte in den Flur hinaus.
     
    *
     
    »Gut«, sagte Arm, als er es hörte. Er schien nicht beunruhigt zu sein.
    Harpers Lungen stachen von der Flucht durch leere Flure, gehetzt von Bildern der Verfolgung. Er war naß und stank: Er war in die Pfütze im Flur vor der ALTERSRENTE gefallen. Er warf verängstigte Blicke auf die Türen der Bibliothek: Inzwischen mußte Personal den Vorsitzenden gefunden haben.
    »Wir müssen wohl gleich gehen«, sagte er kläglich (nachdem er seinen Bericht beendet und festgestellt hatte, daß er darin keine gute Figur machte).
    »Und du würdest die Treppe wiederfinden?«

Weitere Kostenlose Bücher