Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
aufwirbelte. In der Küche fand er ein paar Lebensmitteldosen (er nahm an, daß es Lebensmittel waren), deren Schilder fehlten. Ein großer, weißer Kühlschrank starrte ihn freudlos an und stank, als er ihn öffnete. Um ihn herum war es sehr ruhig. Das Küchenfenster überschaute eine Steinwüste, in der sich nichts rührte. Dahinter war eine Einkaufsarkade mit Spiegelglasfronten zu sehen. Er steckte die Dosen in die Taschen und ließ sich von dem Gestank des Kühlschranks aus dem Fenster treiben.
    Es hatte aufgehört, zu regnen. Er watete durch die Halde zerbröckelnder Ziegel und blieb hier und da stehen, um rostige Metallstücke zu untersuchen oder dem frostigen Fauchen des Windes zu lauschen. Das helle Knirschen und Rutschen von zerbrochenen Ziegeln unter seinen Stiefeln hallte entfernt von den Gebäuden am Rand wider. Ganze Menschen lagen hier begraben, Knochen und Kleider. Als er über einen Zementbrocken stieg, unter dem etwas wie ein Abflußrohr oder vielleicht ein Gewehrlauf herausragte, glitt er aus und fiel. Die Erde rutschte, Staub und Sand drangen aus Löchern, die der Regen nicht erreichen konnte. Er rollte eine steile Steinböschung hinunter, und als er unten ankam, wurde sein rechtes Bein unter einem Zementklotz von anderthalb Metern im Quadrat eingeklemmt.
    Der Schmerz war furchtbar, als er versuchte, das Bein herauszuziehen, und er verlor das Bewußtsein.
    Eine Bewegung im Schutt. Er öffnete die Augen. Über ihm stand eine Gestalt in leuchtend blauen Samthosen, einem weißen Hemd mit Spitzenrüschen und einer flaschengrünen Jacke mit goldgesäumten Taschen. Ringe glitzerten an seinen Fingern, auf einem davon waren acht kleine, sternförmig angeordnete Pfeile zu sehen. Sein schmales Gesicht war vollkommen frei von Krebsgeschwüren, weiß und glatt. Sein schulterlanges schwarzes Haar war mit einem kirschroten Band zusammengehalten. Er hatte einen strähnigen Bart. Seine Füße waren nackt und sauber.
    »Das ist ja ein Ding«, sagte er.
    Er betrachtete nachdenklich den Zementklotz und rieb sich den Bart. Er beugte sich hinunter und legte die Arme darum, ächzte, hob ihn hoch. Er taumelte einige Meter zur Seite und ließ ihn fallen.
    Er fluchte und wischte heftig den Schmutz von seiner Jacke.
    Harper schwanden wieder die Sinne.
    Er war allein, aber das Gewicht war ohne Zweifel von seinem Bein genommen. Er zog sich ein kurzes Stück durch den Schutt. Sein Mund war trocken und heiß. In seinem Kopf drehte es sich. Sein Bein fühlte sich riesengroß an, das Blut pulsierte darin. Er wartete lange und sah zu, wie die Schatten der einzelnen Steine sich mit der Sonne bewegten. Würde er sterben? Ein brauner Vogel ließ sich dicht neben ihm nieder und schimpfte ihn aus. Es war fast Abend, als er unsichere Schritte in seiner Nähe vernahm.
    Er bat mit gepreßter, stockender Stimme um Hilfe und konnte sich selbst kaum hören.
    Diesmal war es ein kleiner Mann in einem Gabardinregenmantel, der mit einem Strick zusammengehalten war. Unter der Krebsschicht war sein Gesicht rot vor Anstrengung. In seinen von Äderchen durchzogenen blauen Augen lag ein gehetzter, in die Enge getriebener Zug. Er trug eine große Fernsehkonsole aus Plastik mit goldenen Knöpfen. Über die Schulter hing ein ausgebeulter Seesack. Als er Harper erblickte, blieb er stehen, strauchelte und ließ den Fernseher fallen. Er nestelte in der Tasche, sagte dann: »Immerhin ist es nur ein Junge. Was hast du für Schwierigkeiten?«
    Harper weinte vor Erleichterung.
    »Hab’ mir wehgetan, Mister.«
    »Dann brauchst du also einen Arzt?« Er kicherte in sich hinein, dann lachte er laut heraus und zeigte dabei seine braunen, faulenden Zähne. Er beugte sich hinunter. Sein Atem stank. »So. Einen Arzt also?« Er schnippte mit den Fingern. »Und danach, wie?« Er klopfte Harper auf die Brust. »Zumindest hat einer von uns Glück.« Das erheiterte ihn auch.
    Mit flinken, sicheren Fingern untersuchte er das zerschmetterte Bein.
    »Wir müssen ein paar Schienen suchen«, sagte er. Dann plötzlich: »Was würdest du davon halten, Medizin zu lernen? Ich weiß, daß dir nicht klar ist, was das bedeutet. Halt mal einen Augenblick still.«
    Harper brauchte fünf Jahre, um diese beiden Männer in Gedanken auseinanderzuhalten.
     
    *
     
    Sie blieben drei Tage in der Bibliothek. Jeden Tag in der Morgendämmerung erschien einer von Pauces Handlangern mit grobschrotigem Brot, Taubenfleisch und einem Bogen Papier in der Tür und verkündete: »Beihilfe, hier

Weitere Kostenlose Bücher