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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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« Deswegen », sagte er. «Weil du meine Tochter sein sollst. Es wäre respektlos. Den Leuten fällt es auf, wenn ein Kind seinen Vater oder seine Mutter beim Vornamen anredet, besonders in einem so konservativen Staat wie diesem. Und wir wollen nicht auffallen. Wir wollen nicht, dass sich die Leute an uns erinnern, wenn wir erst mal wieder weg sind. Klingt das einleuchtend?»
    «Ja», sagte sie. Sie ließ die Hände in ihrem Schoß liegen, und als sie spürte, wie heftig ihr Herz klopfte, atmete sie tief aus. «Ja, Dad», sagte sie. «Das klingt einleuchtend. Aber ich hoffe aufrichtig, Dad, dass du nicht bis Afrika in diesem gönnerhaften Ton zu mir reden wirst.»
    Er warf ihr wieder einen Blick zu, und in seinen Augen blinkte eine Schärfe auf, ein Anflug von Wut, der sie innerlich zusammenzucken ließ. Sie hatte ihn noch nie richtig wütend erlebt, und jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auch gar nicht darauf neugierig war. Er würde kein besonders netter Vater sein, begriff sie. Sie wusste zwar nicht, warum, aber es war ihr plötzlich intuitiv klar. Er würde kalt und fordernd und ungeduldig zu seinen Kindern sein, wenn er denn je welche haben sollte.
    Sie dachte dies, obwohl seine Miene fast augenblicklich sanfter wurde.
    «Schau», sagte er. «Schatz, ich bin nur nervös. Jetzt wird es ernst. Du musst daran denken, auf den Namen ‹Brooke› zu hören, und du musst aufpassen, dass du mich nie, unter keinen Umständen ‹George› nennst. Es ist sehr wichtig. Ich weiß, es ist anfangs ungewohnt, aber das geht bald vorbei.»
    «Ich verstehe», sagte sie, nickte und starrte wieder auf das Handschuhfach. In der Ferne sah sie eine Felsformation, die wie ein Vulkan oder ein gigantischer Schornstein aussah.
    «Siehst du den Felsen dahinten?», fragte George Orson – fragte David Fremden. «Er heißt Chimney Rock. Er ist eine nationale Gedenkstätte.»
    «Ja», sagte Brooke.
     
    Es war komisch, wieder eine Tochter zu sein. Und wenn auch nur eine gespielte. Es war lange her, dass sie zuletzt an ihren richtigen Vater gedacht hatte, monatelang hatte sie diese Erinnerungen tapfer von sich ferngehalten, hatte Mauern und Wände gegen sie errichtet, hatte sie zurückgedrängt, wann immer sie drohten, in ihrem Alltagsbewusstsein Gestalt anzunehmen.
    Aber wenn sie das Wort «Dad» aussprach, wurde es schwieriger. Ihr Vater schien dann wie ein Geist aus der Flasche vor ihrem geistigen Auge zu erscheinen – sein mildes rundes Gesicht, seine massigen Schultern und sein kahler Kopf. Zu seinen Lebzeiten schien sie ihn nie enttäuscht zu haben, und obwohl sie nicht an Geister glaubte, nicht an ein Leben nach dem Tod, obwohl sie, anders als Patricia, nicht daran glaubte, dass ihre toten Eltern als Schutzengel über ihnen schwebten, verspürte sie doch einen leichten Schmerz, als sie George Orson «Dad» nannte. Einen feinen Stich von Schuldgefühl, als könnte ihr Vater wissen, dass sie ihn verraten hatte. Und zum ersten Mal seit seinem Tod schien er sich über sie zu beugen, zum Greifen nah, nicht zornig, aber irgendwie verletzt, und es tat ihr leid.
    Sie hatte ihn offenbar wirklich geliebt.
    Sie hatte das gewusst, aber sie hatte sich nie gestattet, darüber nachzudenken, und so kam es jetzt überraschend.
    Zu Hause war er wenig in Erscheinung getreten, hatte sich kaum in die Erziehung der Mädchen eingemischt, obwohl Lucy davon überzeugt war, dass sie von ihrem Temperament her eher ihm ähnelte als ihrer Mutter. Er war ein reservierter Mensch, wie Lucy, mit dem gleichen zynischen Humor wie sie, und Lucy erinnerte sich, wie sie sich zusammen davonstahlen, um sich Horrorfilme anzuschauen, was ihre Mutter verboten hätte.
    Patricia war die Sorte Mädchen, die von einer Halloween-Maske Albträume bekam, ja schon von einem Filmplakat, geschweige denn vom Film selbst. Lucy dagegen hatte keine Angst. Was sie und ihr Vater sich von solchen Filmen erhofften, war nicht Gänsehaut. Sich Horrorfilme anzuschauen war für sie beide seltsam entspannend, es war wie eine Art Musik, die ihre – seine und ihre – Weltsicht bestätigte. Ein gemeinsames Verstehen, und Lucy bekam nie Angst, nicht richtig jedenfalls. Gelegentlich, wenn ein Monster oder ein Mörder plötzlich auftauchte, legte sie ihrem Vater die Hand auf den Arm, rückte näher an ihn heran, und dann tauschten sie einen Blick. Ein Lächeln.
    Sie verstanden sich.
     
    Das alles ging ihr durch den Kopf, während sie und George Orson wortlos die Straße entlangfuhren. Sie drückte die

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