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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Wange gegen die Scheibe des Beifahrerfensters und sah zu, wie sich eine Wolke von Vögeln von einem Feld erhob und, als sie vorüberfuhren, zu einer Fahne auseinanderzog. Lucys Gedanken waren nicht klar artikuliert in ihrem Kopf, aber sie spürte, wie sie sich rasch bewegten und zusammenballten.
    «Woran denkst du?», sagte George Orson, und jetzt, beim Klang seiner Stimme, stoben die Gedanken auseinander, so wie die Vögel sich aus ihrem Schwarm herauslösten und wieder zu einzelnen Vögeln wurden. «Du siehst so aus, als wärst du tief in Gedanken versunken», sagte George Orson.
    Sagte Dad.
    Und sie zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht», sagte sie. «Ich hab wahrscheinlich etwas Angst.»
    «Ah», sagte er. Er richtete die Augen wieder auf die Straße und drückte mit dem Zeigefinger leicht gegen den Steg seiner Sonnenbrille. «Das ist ganz natürlich.»
    Er streckte die Hand aus und tätschelte ihr den Oberschenkel, und sie akzeptierte diese kleine Geste, obwohl sie sich nicht sicher war, ob es George Orsons oder David Fremdens Hand war.
    «Anfangs ist es schwierig», sagte er. «Umzuschalten. Da ist ein Widerstand, den man erst überwinden muss. Man hat sich an eine bestimmte Routine und Maske gewöhnt, und wenn man den Wechsel vollzieht, kann es zu gewissen kognitiven Dissonanzen kommen. Ich weiß genau, wovon du sprichst.» Er strich mit der Hand über den Außenrand des Lenkrads, als formte er es, knetete er es aus Ton.
    «Angst!», sagte er. «Kenn ich, zur Genüge! Und weißt du, das erste Mal ist es besonders schwierig, weil man sich da noch so an die Idee vom eigenen Ich klammert. Man ist mit diesem Begriff aufgewachsen, man glaubt, es gebe ein wirkliches Ich, und es gibt allerlei Dinge, an denen man hängt – Menschen, die man seit langem kennt. Man fängt an, an sie zu denken. Menschen, die man zurücklassen muss –»
    Er seufzte und wurde sogar leicht wehmütig, vielleicht beim Gedanken an seine verstorbene Mutter oder an seinen Bruder, der ertrunken war, an einen lange zurückliegenden Familienausflug auf dem Kahn, als der See noch immer voll Wasser gewesen war.
    Oder auch nicht.
     
    Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen.
    Was hatte George Orson nochmal zu ihr gesagt? Ich bin eine Menge verschiedener Personen gewesen. Dutzende .
    Sie hatte sich lange in einem Paralleluniversum befunden, dachte sie, und sie war George Orson die ganze Zeit wie in Trance gefolgt. Und dann plötzlich, während sie auf dem Weg zum fernen Postamt waren, spürte sie, dass sie aufwachte. Ein flatterndes, ein aufschwebendes Gefühl, und alles begann plötzlich einen Sinn zu ergeben.
    Er hatte gar keinen Bruder, dachte sie.
    Er war in Wirklichkeit gar nicht hier, in Nebraska, aufgewachsen. Er hatte nie in Yale studiert; nichts von dem, was er ihr erzählt hatte, war wahr.
    «Gott», sagte sie und schüttelte den Kopf. «Was bin ich dumm.»
    Und er warf ihr einen kurzen Blick zu, aufmerksam und liebevoll. «Nein, nein», sagte er. «Du bist nicht dumm, Süße. Was ist los?»
    «Mir ist grad was klargeworden», sagte Lucy, und sie schaute kurz auf seine Hand hinunter, die noch immer auf ihrem Bein ruhte. Seine Hand, sie hätte sie überall wiedererkannt. Eine Hand, die sie gehalten, die sie an ihre Lippen geführt hatte, eine Handfläche, deren Linien sie mit den Fingerspitzen nachgezogen hatte.
    «Du heißt nicht wirklich George Orson, stimmt’s?», sagte sie, und –
    Er blieb unbewegt. Fuhr weiter. Hatte weiterhin diese Sonnenbrille auf, in der sich die Straße und der wellige Horizont spiegelten, war immer noch derselbe Mann, den sie kannte.
    «George Orson», sagte sie. «Das ist nicht dein wirklicher Name.»
    «Nein», sagte er.
    Er sprach in einem sanften Ton, als teilte er ihr etwas Schlimmes mit, und sie erinnerte sich daran, wie die Polizisten an dem Tag, an dem ihre Eltern ums Leben kamen, vor ihrer Tür gestanden hatten, wie sie die Nachricht vorsichtig, stückweise übermittelt hatten. Es hatte einen schrecklichen Unfall gegeben. Ihre Eltern waren schwer verletzt. Der Rettungswagen war gekommen. Die Sanitäter hatten nichts mehr tun können .
    Sie nickte, und sie und George Orson sahen sich an. Es entstand eine wortlose, zärtliche Verlegenheit. War das nicht schon gestern klar gewesen, als er ihr die Unterlagen vom Konto in der Elfenbeinküste gezeigt, als er ihr ihre gefälschten Geburtsurkunden vorgelegt hatte? War es da nicht schon offensichtlich gewesen?
    Es hätte klar sein müssen, vermutete sie, aber

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