Identität (German Edition)
können sie schon so lange tot sein? Wie können – wir beide Briefe von ihm bekommen haben, Briefe neueren Datums …»
Briefe, die vielleicht im Voraus jemandem anvertraut worden waren. Bitte schicken Sie diese Briefe ab, wenn ich in einem Jahr noch nicht wieder zurück bin. Hier sind hundert Dollar, zweihundert Dollar für Ihre Bemühungen .
«Vielleicht haben Sie recht», sagte Miles. «Vielleicht sind sie immer noch – irgendwo – am Leben.»
Doch Lydia hing jetzt ihren eigenen Gedanken nach. Nicht überzeugt, aber –
Trotzdem.
Wahrscheinlich stimmte es nicht, aber wäre es nicht schön, daran zu glauben?
Es wäre eine solche Erleichterung, dachte Miles, solch eine Beruhigung zu denken, dass sie endlich das Ende der Geschichte erreicht hatten. War das nicht das Geschenk, das Hayden ihnen mit diesem Panoptikum machte? War das nicht Haydens Vorstellung von Güte?
Ein Geschenk für dich, Miles. Ein Geschenk auch für dich, Lydia. Ihr seid am äußersten Rand der Erde angelangt, und jetzt ist eure Reise zu Ende. Vollendet, wenn ihr wollt.
Wenn ihr es nur akzeptiert.
24
RYAN LEBTE inzwischen seit einem Jahr in Ecuador, und er gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, dass er Jay wahrscheinlich nie wiedersehen würde.
Er gewöhnte sich allmählich an so manches.
Er wohnte in der Altstadt von Quito – dem Centro Histórico – in einer kleinen Wohnung an der Calle Espejo, einer ziemlich belebten Fußgängerzone, und war mittlerweile gegen den Lärm der Stadt, ihr frühes Aufwachen, immun geworden. Direkt unter seinem Fenster gab es einen Zeitungsstand, dadurch brauchte er keinen Wecker. Noch vor Tagesanbruch hörte er das Geklapper der Metallregale, die Señor Gamboa Pulido aufbaute und in die er seine Zeitungen einordnete, und kurz darauf begannen Stimmen sich von unten herauf in sein Halbbewusstsein einzuschleichen. Lange war der Klang von spanischen Sätzen für ihn nicht mehr als plätschernde Musik gewesen, aber auch das änderte sich allmählich. Es hatte nicht so lange wie erwartet gedauert, bis die einzelnen Silben angefangen hatten, zu Worten zu verschmelzen, bis er merkte, dass er selbst begonnen hatte, auf Spanisch zu denken.
Natürlich war er noch immer in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Noch immer als Amerikaner zu erkennen, aber für den Markt und auf der Straße reichte es schon, er konnte dem Geplapper der Diskjockeys im Radio halbwegs folgen, er konnte fernsehen und verstand die Nachrichten, die Handlung und die Dialoge der Telenovelas, er konnte sich in Cafés und Internetcafés nett unterhalten, er bekam es mit, wenn Leute über ihn redeten – ihn neugierig ansahen, wie er sich über die Tastatur beugte, staunten, wie schnell er mit einer Hand tippen konnte.
Auch daran gewöhnte er sich so langsam.
Manchmal spürte er am Morgen ein seltsames Stechen. Seine Phantomhand tat weh, die Handfläche juckte, die Finger schienen sich zu bewegen. Aber es überraschte ihn nicht mehr, wenn er dann die Augen öffnete und nichts davon da war. Er hatte aufgehört, mit der Gewissheit aufzuwachen, dass er seine Hand wiederhatte, dass sie sich irgendwie mitten in der Nacht rematerialisiert hatte, aus seinem Armstumpf gesprossen, regeneriert.
Das schmerzliche Gefühl von Verlust war verblasst, und neuerdings stellte er fest, dass er immer seltener über diese Abwesenheit stolperte. Er konnte sich ohne allzu große Schwierigkeiten anziehen und sogar seine Schuhe zubinden. Er konnte sich Toast und Kaffee machen, ein Ei in die Pfanne schlagen, alles mit einer Hand, und an manchen Tagen verzichtete er sogar auf seine Prothese.
«Eier» war eines der Wörter, über die er manchmal stolperte.
Huevos? Huecos? Huesos? Eier, Löcher, Knochen.
Einstweilen benutzte er einen myoelektrisch gesteuerten Greifer, der sich wie ein Panzerhandschuh über seinen Stumpf stülpen ließ. Er konnte die Zangenbacken öffnen und schließen, indem er einfach die Unterarmmuskeln anspannte, und sogar das konnte er schon ganz gut. Trotzdem gab es Tage, an denen es einfacher – unauffälliger – war, schlicht eine Manschette um das nackte leere Handgelenk zu knöpfen. Er schätzte das Interesse nicht, das der Greifer bei den Leuten erregte, die erschrockenen Blicke, die Angst der Frauen und Kinder. Es reichte schon, ein Gringo zu sein, ein Yankee – auffällige Zutaten waren wirklich nicht nötig.
In der Anfangszeit hatte er festgestellt, dass er, wenn er über die Plaza de la Independencia ging,
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